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Das Lernfließband

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Die Sechsjährigen beantworteten die Frage „Freust Du Dich schon auf die Schule?" erwartungsgemäß mit ja, ehe sie jetzt zu Schulbeginn auf das Fließband der Lernindustrie gesetzt werden. Die Eltern haben kein gutes Gefühl dabei, denn die Schule genießt wie auch alle anderen Institutionen weder ungeteiltes Ansehen noch Vertrauen.

Sie ist ein Prozeß, der durchlaufen werden muß und der nach einer Anzahl von Jahren beendet ist. Zu diesem Zeitpunkt fragt man sich, wo die vielen begabten Kinder hingekommen sind. Das von den meisten Schülern herbeigesehnte Ende manifestiert sich in einem Dokument, das für den Eintritt in andere Institutionen von grundsätzlicher Wichtigkeit ist.

Die pädagogischen, psychologischen und didaktischen Wissenschaften haben in diesem Jahrhundert viele neue Erkenntnisse gewonnen. Eine große Anzahl von Schulversuchen — falls es sich dabei um ehrliches Suchen und nicht um ein Verdrängungsritual handelte — trug zu einer wesentlichen Erfahrungsbereicherung bei.

Wir könnten also, so meint man, die bisher beste aller Schulen haben. Doch alle Betroffenen, Eltern, Schüler, Lehrer, Arbeitgeber, sind unzufrieden.

Die Ursachen für das Versagen der Schulen beziehungsweise ihre mangelnde Qualität kann mit plausiblen Argumenten an jeder beliebigen Stelle des Regelkreises geortet werden. Tatsächlich ist sie darin begründet, daß die Schule das Abbild der herrschenden Wertvorstellungen ist. Und es gibt keine herrschenden geistigen Wertvorstellungen in der gegenwärtigen Zeit.

Doch der Abstand vom Soll ist längst bewußt geworden, sonst wäre das Unbehagen nicht so groß.

In der Schule erhalten die Kinder Wissensbruchstücke, die zum Teil willkürlich aus dem riesigen, wuchernden Wissensberg ausgewählt scheinen und miteinander keine Verbindung haben: winzige Wissensinseln im Meer der Unwissenheit. Das verkleinerte Abbild der weltweit herrschenden Fachidiotie.

Die Umweltexperten sprechen von der Verinselung der Biotope und haben erkannt, daß diese Ghettos für Flora und Fauna der Vernetzung bedürfen, um ein vitales, vielfältiges und stabiles ökologisches System zu ergeben. Diese Erkenntnis führt bereits zu neuen Wegen der Landschaftsökologie.

Die Vernetzung der Lerninhalte würde zu ähnlichen positiven Ergebnissen führen. Und das herbeiführen, woran es derzeit mangelt: Bildung.

Es liegt im Wesen von Institutionen, zum Selbstzweck anzuschwellen und ihre ursprüngliche Funktion ins Gegenteil zu verkehren, sodaß niemand mehr daran denkt, ihren Wert an den Folgen ihrer Arbeit zu messen. Sie sind vielbeschimpfte, aber dennoch heilige Kühe.

Allerdings fordern sie die Entwicklung von Alternativen heraus. Vor die Wahl gestellt, sein Kind in eine Alternativ- oder in die Regelschule zu geben, entscheiden sich die meisten Eltern für die Regelschule, weil sie meinen, Anpassung sei notwendig, und eine realitätsnahe Erziehung sei gewährleistet, indem Kinder lernen — außerhalb des Lehrplans — sich innerhalb eines Systems zu arrangieren.

Doch die Schulen sollten für die Zukunft der Kinder von Nutzen sein. Die Anpassung an gegenwärtige Verhältnisse kann kein Erziehungsziel darstellen.

Geht man, verwirrt von der nicht enden könnenden Diskussion über die Schule, ihrer ursprünglichen Bedeutung nach, findet man im griechischen „scho-le" ein Wort für das „Anhalten in der Alltagsarbeit", „Muße für das Denken", „Beschäftigung in der freien Zeit". Dieser Schulbegriff hat mit unserer Gegenwart, in der Schulkinder unentwegt beschäftigt und dadurch am Denken gehindert werden, nichts zu tun, könnte aber für unsere Zukunft anregend sein.

Denn es wird wahrscheinlich mehr Freizeit geben als bisher. Und diese wird einer Gesellschaft, für die eigenständiges Denken und kreatives Verhalten einen Wert darstellt, nicht Problem, sondern Gewinn sein. In einer solchen Gesellschaft reduziert sich auch die Abhängigkeit von den Konsumgütern.

Gewiß läßt sich, was für die geistige Entwicklung der Kinder gut ist, nicht ausschließlich auf eine Institution reduzieren. Die Schule ist nicht der einzige Ort, der Kindern für ihre Entfaltung zur Verfügung stehen soll.

Jeder Mensch trägt durch sein Denken, Sprechen, durch das Vorleben der für ihn gültigen Werte, durch seine Haltung und Gesittung Verantwortung für Nutzen oder Schaden.

Die Kritik an der Schule ist Teil der Gesellschaftskritik. Sind denn überhaupt gute Schulen in einer kinderfeindlichen Gesellschaft möglich?

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