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Das letzte Asyl

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Der aus seiner Heimat physisch ausgestoßene Sigmund Freud wurde von Österreich auch in seiner geistigen Ausstrahlung mindestens so verdrängt wie vom übrigen Europa. England erfüllte ihm wenigstens seinen Wunsch, „in Freiheit zu sterben“.

Dieser ist das Motto der im heurigen Juli eröffneten Ausstellung im ehemaligen Wohnhaus in Hampstead Heath. Seine ihm ebenbürtige Tochter Anna hatte es beinahe von Anfang an als Museum geplant. Als sie, deren Kinderklinik auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus den Kriegs-Kindergärten hervorgegangen war, fast vierzig Jahre später, 1982, dort starb, wurde Ma-resfield Gardens 20 in ihrem Sinn konservatorisch umgestaltet, und zwar unter dem Aspekt der Freiheit des Geistes, der den Engländern der naheliegendste und angenehmste scheint.

Nur fünf Räume dürfen mit Rücksicht auf die ruhige Wohngegend gezeigt werden, aber sie geben ein sehr beredtes und atmosphärisches Bild der Zeit und Arbeitsweise Freuds.

Sein Schlaf- und Arbeitszimmer samt Bibliothek ist vollständig präsentiert. Dabei fällt auf, um wieviel mehr literarische Werke als fachwissenschaftliches Schrifttum er gerettet hatte: allein zwölf Bände von Goethe, viele Bücher von Dostojewski, Anatole France, Flaubert und Balzac; ebenso archäologische Bücher, wie auch seine berühmte Kunstsammlung — bis zur Plazierung genau rekonstruiert und sorgfältig erhalten.

Das Speisezimmer mit den aus Österreich übersiedelten Bauernkästen Anna Freuds ist ebenso zu sehen wie die von ihr zur eigenen Entspannung geknüpften orienta-lisierenden Teppiche in ihrem Arbeitszimmer. Dessen spartanischer Hausrat wanderte in einen anderen Raum, um einer Dokumentation Platz zu machen, die einer ersten pädagogischen Einführung in die Problematik der Psychoanalyse dienen soll.

Um ein fortgeschrittenes Verständnis und um die Ausschöpfung der Möglichkeiten, die sich aus Sigmund Freuds Lehre ergeben, bemühte sich Anfang November ein im Germanistischen

Institut der Londoner Universität stattfindender Kongreß mit Vortragenden wie John Bowlby, Ernst Federn, Ernest Gelmer, Uwe Henrik Peters, Murray Hall oder Frederick Wyatt.

Ivar Oxaal wies in seinen Ausführungen nach, daß im Wien von 1910 in den Bezirken I, II, IX und XX vierzehn bis vierunddreißig Prozent zumeist nicht mehr gläubiger Juden wohnten, in den übrigen nur jeweils ein bis sieben Prozent. Er zeigte weiters auf, daß Freuds Assoziationsmethode im „Sich-frei-Aussprechen“ in der Hassidischen Tradition und jüdischen Mystik ihre Wurzeln haben könnte.

Walter Toman berichtete über Freuds Einfluß auf andere Psychotherapieformen, Ilse Hellmann über ihre Erfahrungen als Kinderpsychologin und als von Anna Freud ausgebildete Analytikerin, Edward Timms über Freuds ausgreifende schön-geistige Lektüre-Gewohnheiten.

Andere Referate umfaßten die historische Entwicklung der Freudschen Ideen und der analytischen Bewegung, aber auch seine Irrtümer, aufgezeigt etwa durch feministische Kritik, Verifizierungen und Zukunftsperspektiven einer Theorie, deren Rezeption, ganz wie erwartet, verzögert verläuft - auch wenn eingeweihte Kreise sich ihrer längst in Therapie und vor allem der Werbung praktisch äußerst wirkungsvoll bedienen.

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