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Das Märchen von der Liebe

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Im Erlenhain, ganz tief verborgen in der Au, wohnt die Nebelfrau. An einem Tag eines jeden Jahres erfüllt sie dem, der zur rechten Stunde den Weg zu ihr findet, einen Wunsch.

Vor vielen, vielen Jahren war ein hübscher, junger M????nn mit einer seltsamen Bitte an sie herangetreten: Er wollte Wissen und Erkenntnis, um d????s Wesentliche zu erfassen. Die Nebelfrau staunte. Mancherlei. Wünsche w????ren ihr schon untergekommen - nach Reichtum, Macht, Schönheit oder Ruhm. Nicht immer hatte die Erfüllung dem Beschenkten zum Glück verholfen, wie dieser oft zu spät erkennen mußte.

Doch sie sah, wie tiefernst es dem Jungen in seinem Streben war, sah seine. erwartungsvollen Augen im Gedanken an den Besitz der Weisheit leuchten. Tief im Inneren erbarmte er ihr, denn sie ahnte seinen einsamen', - dornenvollen Weg voraus. Aber er bat so sehnsüchtig, daß sie ihm seinen Wunsch nicht abschlagen wollte???? Glücklich und tatenfroh zog·er los. Seitdem waren Jahrzehnte vergangen.

Eines späten Herbstabends schien

es der Nebelfrau, als sähe sie eine bekannte Gestalt zwischen den Erlen.

Nein, es mußte ein Irrtum gewesen sein. Dieser müde, alte Mann, der sich da gegen den Wind ste????mte . . . Doch als er nahe genug herangekommen war, sodaß sie sein Gesicht sehen konnte, wußte sie es genau. Durch die grauen, eingefallenen Wangen zogen tiefe Falten, der Mund war schmal und bitter geworden, aberdie hellen, forschenden Augen noch immer nicht erloschen.

„Kennst du mich noch?", fragte der Mann. „Vor ' sieben mal sieben Jahren hast du mir die Gabe der Erkenntnis geschenkt. Ich bin dir immer noch dankbar. Ich habe viel geforscht, viel erfahren.' Das Wissen hat mir Ansehen und Wohlstand gebracht. Ich habe die Wunder der Natur bestaunt und.die hellen Seiten des Lebens genossen. Aber mich auch durch die dunklen gegrämt, delll\N eid und Mißgunst verschon- _ ten mich ebensowenig wie Verleumdung und Spott.

Doch bei allem Verständnis, aller Einsicht, die du mir geschenkt hattest

konnte ich eines nie erfahren: Liebe. Versteh mich, bitte, nicht falsch: ich habe oft geliebt, bin viel geliebt worden. Aber immer war ein Beutetrieb dabei, auf meiner oder der anderen Seite. Jetzt komme ich allmählich an das Ende meines Weges, die Tage werden zählbar. Gewähre mir noch einen Wunsch: Laß mich einmal Liebe ohne Besessenheit erfahren - ich weiß jetzt, es wäre die wahre."

Da verdunkelten sich die Augen der Nebelfrau vor Traurigkeit. „Es tut mir weh, daß du den weiten Weg vergebens gekommen bist. Wahre Liebe kann ich dir nicht schenkPn. Sie ist das einzige, das aus sich selber wächst, ungebeten, ungefragt, ob jemand sie will odernicht:"

Der alte Mann schien noch mehr in sich zusammenzusinken. Nach langem Schweigen hob er den Kopf und nickte: „Ja, ich habe es gewußt. Und doch - ich habe immer noch gehofft. Trotzdem - hab Dank für alles, was du mir gegeben hast."

Langsam drehte er sich um und verschwand im Grau des Erlenhains

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