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Das Medienattentat

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Am24.März sprach der Chefredakteur der FÜR CHE auf einer Veranstaltung der Brown University und des „Providence Journal" in Providence (Rhode Island) über „Massenmedien und Politik". Weitere Referenten waren der ehemalige Vizepräsident Walter Mondale, der Ex- Präsidentschaftskandidat John A nderson und amerikanische Journalisten. Niemand ahnte, daß sechs Tage später auf schreckliche Weise neues Anschauungsmaterial zum Thema geliefert würde.

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Am24.März sprach der Chefredakteur der FÜR CHE auf einer Veranstaltung der Brown University und des „Providence Journal" in Providence (Rhode Island) über „Massenmedien und Politik". Weitere Referenten waren der ehemalige Vizepräsident Walter Mondale, der Ex- Präsidentschaftskandidat John A nderson und amerikanische Journalisten. Niemand ahnte, daß sechs Tage später auf schreckliche Weise neues Anschauungsmaterial zum Thema geliefert würde.

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Um 14.25 Uhr fielen die sechs Schüsse. Ab 14.55 Uhr waren alle drei kommerziellen Fernsehgesellschaften NBC, ABC und CBS auf Dauersendung.

Noch einmal und noch einmal und immer wieder erlebte man an jenem 30. März 1981 das Ersterben des strahlenden Reagan-Lächelns, die Überwältigung des Attentäters, Interviews, Augenzeugenberichte: Fernsehen total.

Fernsehen hat die Qualität der Politik verändert, nicht nur in Amerika. Das weiß jedes Kind.

Fernsehen zwingt jeden Politiker dazu, gute Ideen spätestens am frühen Nachmittag zu äußern - wer erst nach TV-Redaktionsschluß Gescheites sagt, bleibt fernseh-, echo-, wirkungslos.

Fernsehen hat die Politik vereinfacht. In 22 Nachrichtenminuten kann man eine Vielzahl von Meldungen überwiegend nur in Schlagzeilenform unterbringen. Die Folgen hat die deutsche Kommunikationsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann nachgewiesen: Im TV-Zeitalter halten sich weit mehr Bürger als früher für politisch gebildet, auch wenn sie dabei (ebenso nachweisbar) irren.

Fernsehen hat die Politik auch weiter personalisiert. Personen lassen sich herzeigen, Statistiken, Daten oder gar Prinzipien nicht.

Der kalifornische Abgeordnete Pete McCloskey wollte wissen, warum er ins Repräsentantenhaus gewählt worden war. Eine genaue Erhebung ergab: fünf Prozent seiner Wähler waren von seinen Standpunkten beeindruckt, 10 bis 15 Prozent waren Familienfreunde, 80 bis 85 Prozent fanden sein Auftreten im Fernsehen „sympathisch“.

Fernsehen hat aber, und das muß gleichfalls zugegeben werden, die öffentliche Atmosphäre auch brutalisiert.

Ein durchschnittlicher amerikanischer Teenager hat, wenn er mit 18 die High School verläßt, 18.000 Fernsoh- morde miterlebt. Erst in den letzten Jahren hat man sich auch in den USA in wissenschaftlichen Untersuchungen mit den Folgewirkungen auseinandergesetzt.

Das Ergebnis von über 2300 Einzelstudien, Analysen und Berichten wurde vor vier Jahren in einer Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins „Newsweek“ zusammengefaßt: „Gewalt am Fernsehschirm ist geeignet, bei Jugendlichen aggressives Verhalten hervorzurufen.“

Der Psychologe Ronald Drabman von der University of Mississippi er

klärte: „Fernsehen macht Kinder unempfindlich gegenüber der Gewalt im wirklichen Leben... Sie nehmen Gewalt bei anderen hin, weil sie daran gewöhnt sind, diese als etwas Alltägliches zu erfahren.“

Auch der austroamerikanische Gewaltspezialist Friedrich Hacker fand: „Wir bezahlen Unterhaltung durch Gewalttätigkeit mit einem hohen Preis an

Gewalttätigkeit... TV ist ein Medium der Ansteckung.“

Man weiß, wie oft schon Gewalttäter Geiselnahmen und Attentate speziell auf Fernsehwirkung hin getrimmt haben - und das keineswegs nur in den USA. Letztlich leben Terrorismus und Terroristen weltweit von der Aufmerksamkeit, die Massenmedien ihnen widmen.

1977 hielt der Autoverkäufer Anthony Kirikits einer Geisel 6 Stunden lang einen Gewehrlauf vor die Nase, erreichte dann die Übertragung einer „Botschaft“ im Fernsehen des USBundesstaates Indiana und erklärte, als er aufgab, stolz: „Jetzt bin ich ein gottverdammter Nationalheld.“

Ein Mörder, der seinen Sohn und einen zweiten Menschen erschossen hatte, sagte nach der Tat unter Bezugnahme auf die Nachrichtensendung des bekanntesten Fernsehjournalisten der USA: „Wenigstens habe ich die Walter-Cronkite-Show geschafft.“

Im Bundesstaat Ohio konnte ein Geiselnehmer seinerzeit sogar Präsident Carter für einen Telefonanruf gewinnen: Drang nach spektakulärer Selbstbestätigung war auch hier das Motiv.

Kürzlich wurde ein Neunjähriger (!) bei einem Banküberfall in New York verhaftet. Die Zeitungen erinnerten daran, wie viele Schüler in Slumschulen der US A mit Messern in der Tasche zur Schule kommen (und diese oft genug auch gebrauchen).

Damit kein Mißverständnis entsteht: Es wäre absurd, das Fernsehen für jede Gewalttat oder auch nur jedes Attentat verantwortlich zu machen. Millionen schauen zu und werden dabei nicht zu Verbrechern.

Aber bei Vorliegen gewisser Voraussetzungen, die in Geschichte, kulturellem Hintergrund, Mentalität und individueller Veranlagung liegen können, hat Gewalt im Fernsehen gewaltfördernde Wirkungen im Alltag - in Amerika und anderswo.

Deshalb wäre es sehr überheblich, Tragödien wie das Attentat auf Reagan als „typisch amerikanisch“ abzutun und keinerlei Gefahren für unsere eigene Gesellschaft zu sehen.

Für die USA aber erhebt sich angesichts der Unmöglichkeit, Spitzenpolitiker im Volksgewühl vor Attentätern zu schützen, ernsthaft die Frage, ob man nicht den Preis für die neue Art von Fernsehdemokratie in der Form zahlen müßte, daß Spitzenpolitiker nur noch im Fernsehen vor die Wähler treten.

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