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Das müssen Sie lesen!

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Im Diogenes-Verlag, Zürich, ist ein von Paul Flora illustriertes Bändchen mit ausgewählten Essays von Sigismund von Radecki über Lesen, Schreiben, Drucken und verwandte Dinge erschienen. In den Vorläufern der Literarischen Blätter der „Furche", dem „Krystall“, hat Sigismund von Radecki, den Reinhold Schneider einmal den „Grand old man“ des deutschen Essays nannte, zahlreiche Beiträge veröffentlicht.

Das hört man fast so häufig wie „Haben Sie Feuer?“ Mein Gott, was man alles muß. Steht man aber im Gerüche eines Literaten, dann geht es erst recht an: „Kennen Sie dies? Kennen Sie das? Wie, das kennen Sie nicht? Das müssen Sie lesen!“ Fragt man nun, wie das Buch beschaffen sei, um herauszubekommen, weshalb man aus den drei Millionen der seit dreitausend Jahren geschriebenen Bücher gerade dieses lesen müsse, da das Leben doch kurz sei, so erhält man vage Schönheitsbeteuerungen, wie glänzend…! ganz herrlich…!“ an den Kopf gesprüht, der sich behutsam duckt, um die

Begeisterungsdusche wieder einmal abfließen zu lassen. Und man nimmt sich vor, dieses Buch jedenfalls nicht zu lesen.

Und denkt während des Abtropfens nach. Warum will jeder von jedem, daß er jedes Buch liest? Was hat er davon? Will er mir was Gutes gönnen? Will er mich zu seiner Weltanschauung herumkriegen? Oder hat ihm das Lesen das Denken atrophiert, so daß er gerade noch seine letzte Lektüre im Kopf hat, und sonst nichts? Oder weil er glaubt, von einem herrlichen Werk schwärmend auch selber herrlich zu sein? Weil er gebildet ist, und Gebildete sich bekanntlich über Bücher unterhalten? Weil er in der ganzen großen Welt keine Anknüpfung mit seinen Mitmenschen findet, als gerade ein Buch? Weil er so wenig vom Lesen weiß, daß er das fremde Auge für einen Trichter hält, dem jeglicher Spiritus zugemutet werden kann? Weil… doch die Vermutungen sind gerade so zahllos wie die Bücher, die man gelesen haben muß. Komische Menschen, die immer nur einatmen! Manche sind davon schon ganz aufgeblasen.

Man muß nicht. Man denkt ja gar nicht daran, falls man denkt. Gewiß, man muß lesen, und könnte ohne Bücher nur leben, indem man selber welche schriebe. Man ist der stille Buchmacher im Rennen des Lebens, der seine Geheimtips von der Muse bezieht Aber Bücher, die man wirklich liest, werden Stück von einem selbst, Fleisch von meinem Fleisch und Geist von meinem Geist. Ich selber empfehle zuweilen Bücher (und immer dieselben), weil ich absolut nicht begreifen kann, warum sie nicht schon die ganze Welt auswendig herbetet. Ruft mir dagegen einer

„Das müssen Sie lesen!“ zu, so zuckte ich zusammen, als ob er mir harmlos einen neuen Arm oder ein neues Knie angeboten hätte. Oder gar einen neuen Kopf. Und ich schüttle den meinen: Danke, bin versorgt.

So ist „Das müssen Sie lesen!“ ein höflicher Insult, zugleich aber das Symptom einer Geistesverfassung, welche Kultur mit Informiertsein und Bildung mit „bin im Bilde“ verwechselt. Welche sich schämt, etwas nicht zu wissen. Welche ein zweibeiniges Konservationslexikon offenbar für wohlgebildet hält. Kurz, welche die Erstgeburt des Denkens für ein

Gericht von Makulatur hergegeben hat.

Natürlich gehört zur Bildung auch Wissen, wie Fleisch zur Körperbildung. Aber Bildung an der Wissensmenge messen, hieße eine Venus durch die Fleischwaage taxieren. „Bildung ist das, was nachbleibt, wenn man vergessen hat, was man in der Schule gelernt hat“, lautet ein guter Spruch. Vergessen durch Gedächtnis, wiederauferstanden in der Erinnerung, gibt uns der verdunstete Wissenschwall der Schule zweierlei: einen geistigen Ortssinn, der die Dinge lokalisiert, eine Art Koordinatensystem mit dem Ich im Nullpunkt, und zweitens ein ungefähres Aroma der Epochen und Geister, eine gesättigte Lösung, die bereit ist zu blitzschnellen Kristallisationen. Was darüber ist, das ist von Übel.

Das europäische Bildungsideal beruht auf einer Erziehung durch die alten Sprachen: „Die alten Sprachen sind die Scheide, worin das Messer des Geistes steckt“, sagt Goethe. Dabei kommt es nicht so sehr auf die Verba auf mi, sondern auf jene Gehirngymnastik an, die ein Eindringen in die Grammatik erfordert — und auf den allgemeinen Dunst von den Dingen, die erst dann tot sind, wenn wir für sie absterben. Beim Franzosen nun liegt der Bil- dungsschwerpunkt im Denken, beim Engländer in der Menschenerfahrung, beim Deutschen im Wissen. Jener famose Bauer im Märchen, der auf seiner Tür das Schild „Doktor Allwissend“ anbrachte, ist ein listiger Ahne unseres Faust, der auch alles wissen möchte, und sich darum mit dem Teufel einläßt. Ein gewisser Bildungstypus gipfelt noch immer irgendwo im Professor, der dann alles hinwirft und sich der Magie ergibt. Und dessen Widerspiel ist jener trockene Schleicher Wagner, von dem ich mir sehr gut vorstellen kann, daß er seinen Hörern „Das müssen Sie lesen!“ zuruft.

Ist es nun so, daß Wissen erst durch Denken — also durch die Bewegung, in die es gebracht wird — wertvoll wird, so gilt das in höherem Maße noch von dem Wissen um Literatur. Natürlich kommt man ohne Lesen um sie nicht herum, wehe aber, wenn es dabei bleibt! Ich las einmal einen Spruch, der mir die

Röte ins Gesicht trieb, eben well ich las. „Zu wenig Verstand muß unterm Fluch / des vielen Wissens wanken", redete dieses Buch mich plötzlich an: „Ich sehe dich stets mit einem Buch / und nie mit einem Gedanken.“ Das saß. Das war wie auf mich gemünzt, der ich als Knabe aus Lesewut sogar Kochbücher verschlang. Und es erwachte in mir die Sehnsucht nach dem Denken. Aber Sehnsucht ist ja ein anderes Wort für Wachsen; das Korn, das die Sonne zu sehen sucht, bricht durch die Erde und entfaltet sich — Sehnsucht ist fast schon die Sache selbst.

Darum hebt Sehnsucht nach Wissen mit Bewegung an und läuft sich im Erreichten, eben im Wissen, fest. „Das müssen Sie lesen“ ist eine Katalognummer mit Ausrufungszeichen; was nachher kommt, ist dann die nächste Katalognummer. Sehnsucht nach Denken aber hebt mit Bewegung an und kann sich nicht tot, nur immer lebendiger laufen, weil Denken selbst schon Bewegung, und also sehnsuchtverwandt ist. Erst läuft der Motor noch leer, dann wird er eingeschaltet, und dann geht es los durch die Welt. Um die Welt, denn der Weg ist das Ziel. Das müssen Sie denken!

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