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Das neue Hüftgelenk kommt aus der Fabrik

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Das medizinisch-technische Fachgebiet, das sich mit dem künstlichen Organersatz befaßt, ist die Prothetik (vom griechischen Wortprothesis: „das Voransetzen"). Unter Prothesen versteht man alle Behelfe, die einen funktionellen oder kosmetischen Ersatz für un­vollständig ausgebildete, amputier­te oder zerstörte Körper- oder Organteile darstellen.

Viele Prothesen sind in der heuti­gen Zeit derartig in das äußere Bild des Menschen integriert, daß eine solche Prothese vom Betrachter kaum mehr registriert wird. Das häufigste Beispiel dafür dürfte die Brille sein. Die Verwendung eines derartigen Sehbehelfes ist schon sehr lange bekannt, aber erst in den letzten Jahrzehnten machte die Brille eine Wandlung von der häß­lichen Prothese zum modischen Accessoire durch. Obwohl die Bril­le, wie gesagt, ein fixer Bestandteil unseres Erscheinungsbildes gewor­den ist, macht ihr in verschiedenen Indikationen die inzwischen sehr weiterentwickelte Haftschale Kon­kurrenz. Harte und weiche Haft­schalen mit verschiedenem Was­sergehalt decken ein weites Indika­tionsgebiet von Sehschwächen optimal ab.

Ähnlich wie mit der Brille ver­hält es sich mit dem Zahnersatz, der heute bereits liebevoll „die drit­ten Zähne" genannt wird. Hier gibt es die allseits bekannten Voll- und Teilprothesen, Brücken, Kronen und so weiter. Die neueste Methode des Zahnersatzes besteht aber in der Verwendung sogenannter „Blades" - kleine Titaniumstifte, die direkt im Knochen verankert werden und auf denen mittels eines Gewindes der eigentliche Zahn befestigt wird.

Ebenfalls voll akzeptiert werden Hörapparate, die allerdings heute schon sehr klein und unauffällig sind. Moderne Elektronik ermöglicht Verstärker und Filter, die das Hörerlebnis mit der Prothese schon weitgehend der Natur angleichen. Der Hörverlust kann aber auch durch Verlust des Trommelfelles und Zerstörung der winzigen Ge­hörknöchelchen entstanden sein. Hier kann operativ eine feinme­chanische Miniaturprothese im­plantiert werden, die die Aufgabe der Gehörknöchelchen, nämlich die Schalleitung, voll übernehmen und damit das Hörvermögen wieder herstellen kann.

Ebenfalls ins Gebiet der Prothe­tik spielt die Osteosynthetik, die sich mit der operativen Behand­lung von Knochenbrüchen unter Verwendung von diversem Eigen-und Fremdmaterial befaßt. Obwohl bereits 1886 in Hamburg ein gebro­chener Unterschenkel mit verzink­tem Eisenblech und von außen zu entfernenden Schrauben versorgt wurde, kam die Idee der Osteosyn­thetik und -prothetik erst 1958 zum Durchbruch. Heute ist die Thera­pie von Knochenbrüchen mit Hilfe von Platten, Stiften und Schrauben medizinischer Alltag und erspart Muskelschwund durch lange Lie­gedauer, welche vor allem für alte Patienten lebenbedrohend sein kann.

Der Ersatz eines geschädigten Gelenkes war vom verschraubten Knochenbruch ausgehend nur ein logischer Schritt in Richtung mo­derne Medizin-Technik. Auch die operativen Prothesenimplantatio­nen können in vielen Bereichen bereits als Standardtherapie ange­sehen werden. Besonderes Augen­merk verdient das verwendete Material. Es muß sterilisierbar, inert (biologisch neutral) und hochgra­dig beanspruchbar sein. Der zu­nächst verwendete Stahl erwies sich als zu schwer, der danach propa­gierte Kunststoff als zu abriebfreu­dig bei Knochenkontakt. Das jetzt am meisten verwendete Material ist eine Titaniumlegierung aus der Raumfahrt. Leicht, inert und sehr widerstandsfähig, scheint es das optimale Material für solche Endo­prothesen zu sein. Der Teil, der in den Knochen geschraubt wird, ist mit einem Gewinde versehen - der Teil, der die Gelenkfläche ersetzt, wird aus hochgradig abriebfreier Keramik hergestellt.

Die am häufigsten implantierte Gelenksprothese ist sicher die Hüftgelenksendoprothese. Vor ei­nigen Jahren noch hat man dabei, wenn möglich, die natürliche Ge­lenkspfanne belassen und nur Ge­lenkskopf und Knochenteile durch Prothesen ersetzt. Es zeigte sich aber, daß die Gelenkspfanne durch die Prothese stark abgenützt und so auch ein Ersatz der Pfanne nötig •wurde. Der heutige Standard ist daher, von wenigen Indikationen abgesehen, die Totalendoprothese (TEP) des Hüftgelenkes.

Dazu wird die Gelenkspfanne aufgefräst und eine künstliche Pfanne aus Titanium in den Kno­chen eingeschraubt. Die Tendenz geht zur sogenannten zementfrei­en, also ohne Bindemittel ausge­führten Implantation durch Ver-schraubung. Der Kontakt zwischen Titanium und Knochen ist absto-ßungsf rei und zwischen fünf und 15 Jahren haltbar. Kunststoff würde viel früher vom Knochen abgerie­ben werden, das Resultat wäre eine Lockerung der Pfanne. Die Monta­ge des korrespondierenden Teiles im Oberschenkelknochen erfolgt durch Verankerung eines Titanium-spornes im Marklager des Ober­schenkelknochens. Die Gelenkflä­che der künstlichen Pfanne ist mit Polyäthylen ausgekleidet, der künstliche Gelenkskopf des Ober­schenkels aus Keramik, wodurch nicht nur optimale Gleiteigenschaf­ten gesichert sind, sondern £.uch der Abrieb in Grenzen gehalten werden kann. Eine solche Prothese, gekonnt implantiert, macht aus einem nicht - oder nur unter Qua­len - gehenden Patienten einen wieder voll beweglichen.

Ebenfalls Standard sind heute Knie- und Ellbogenprothesen aus ähnlichen Materialien. In Gebrauch sind auch bereits Schulter- und Sprunggelenkprothesen, sie haben aber noch nicht die Perfektion der oben angeführten erreicht.

Einen interessanten neuen Aspekt bietet die individuelle Anfertigung der Prothese. Dazu wird eine ge­naue Computertomographie des entsprechenden Gelenks angefer­tigt, die erhaltenen Bilder werden im Computer dreidimensional si­muliert und danach eine individuell passende Prothese gefertigt.

Die Vollprothese zum Extremi­tätenersatz ist bereits uralt. Schon in Römerzeit und Mittelalter wur­de das Problem von kosmetischer und mechanischer Seite angegan­gen. Heute ist es das Ziel von Hand-und Armprothesen, einen kosme­tisch und technisch hochwertigen Ersatz unter Verwendung von Fremdantrieb (elektromechanisch, elektrohydraulisch oder pneuma­tisch) zu bieten. Mit elektronischen und feinmechanischen Kleinbau­teilen sind sehr differenzierte Bewegungsabläufe steuerbar, äie Steuerimpulse werden von den verbliebenen Muskelpartien über Sensoren an der Haut geliefert. Die Bewegungen der Kunsthand müs­sen zwar erlernt werden, die Pa­tienten kommen aber nach kurzer Übungszeit damit meist gut zurecht.

Weit weniger aufwendig sind naturgemäß die Prothesen der un­teren Gliedmaßen. Hier muß ledig­lich eine entsprechende Tragfähig­keit gewährleistet und ein Ein­knicken im Kniegelenk verhindert werden. Als Prothesenmaterialien kommen zunehmend glasfaserver­stärkte Kunststoffe in Verwendung.

Nicht vergessen werden dürfen natürlich die kosmetischen Prothe­sen, die zwar keine physiologische, aber sehr wohl eine wichtige psy­chologische Funktion erfüllen. Man denke nur an die Silikonimplanta­te, die in der plastischen Chirurgie (etwa nach Brustamputationen) verwendet werden.

Die Hauptprobleme in der Pro­thetik des Knochenapparates schei­nen gelöst, in der Prothetik der Sinnesorgane sind noch viele Schwierigkeiten zu überwinden. So kann der Hörapparat oder die implantierte Augenlinse das teilge­schädigte Sinnesorgan wieder- und weiterbenutzbar machen, bei einem Totalausfall oder Schädigung der nervlichen Strukturen aber ist die heutige Medizintechnik relativ machtlos. Es gibt zwar Versuche mit Sehgeräten für Blinde, die ein sehr ungenaues Bild grob punkt­förmig zerlegt am Rücken des Blin­den mittels feiner Sensoren abbil­den. Die direkte Verbindung von Mikroelektronik mit nervlichen Strukturen aber ist, trotz intensiv­ster Forschung, heute noch Zu­kunftsmusik.

Dr. Helmut Schiel ist praktischer Arzt und wissenschaftlicher Koordinator der medizini­schen Monatszeitschrift „Forum Dr. med.

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