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Das neue Spectrum Austriae

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Im Sommer 1969 flatterte auf meinen Tisch ein Sonderdruck aus der Zeitschrift für Nationalökonomie „Systemtheoretische Aspekte der mittelfristigen Prognose“ von Hans Millendorfer, Wien. Obgleich es auf diesen wenigen Seiten von neuen Methoden und Begriffen, wie System, Systemtheorie, Struktur des Systems, kybernetische Systeme, ultrastabiles System, Muitistabilität (die zwar alle kurz und treffsicher definiert werden) nur so wimmelt, reizte mich der Gegenstand und wurde in die tägliche Morgenlektüre einbezogen. Neue Denkansätze, neue Modelle, Strukturen und Zusammenhänge, neue Systeme und deren Theorien tauchen auf; neue verläßlichere Wege . der Prognosetechnik — nicht nur auf dem Gebiet der Ökonomie — wurden sichtbar; neue Produktionsfaktoren, zum Teil immaterieller Natur wie Bildung, Inno-vations- und Risikofreudigkeit, Geist, Struktur wurden angepeilt. Methodenlabyrinthe und -Pluralismen, mathematische Geheimsprache in halbzeilenlangen Formeln verdunkeln bald das Gelände, einleuchtende Schlußfolgerungen in schlichter Sprache erhellen aber wieder den Horizont.

Soweit über die Methode Diplomingenieur Hans Millendorfers, 51, im Sommer 1969. Bis Neunzehn war er Betriebsingenieur, von sich heraus in die wissenschaftliche Forschung gedrängt, gelangte er zur fruchtbaren Zusammenarbeit mit der University of Virginia. Mit dem dortigen Professor E. O. Attinger verfaßt er 1968 die Schrift „Global Systems Dynamics“. In Wien ist er inzwischen in der Wissenschaftlichen Abteilung der Bundeswirtschaftskammer tätig. In der Aktion 20 leitet er eine Studiengruppe für Internationale Analysen.

Nach einem längeren Auslandsaufenthalt', der nicht zuletzt „Ländervergleichen“ an den mediterranen und hanseatischen Tangenten Europas diente, fand ich, versehen mit einem persönlichen Widmungstext, das Buch „Prognosen für Osterreich“

von Gasperi-Millendorfer vor. Nach der themenreichen und -schwierigen systemtheoretischen Ouvertüre aus 1969 wird von den nunmehr zwei Verfassern der Vorhang vor der Szene Österreichs 1918 bis 1980 gehoben: „In langjähriger Grundlagenforschung hat die Studiengruppe für Internationale Analysen, Wien, gemeinsam mit der University of Virginia die Ausgangsbasis für die vorliegende Arbeit geschaffen. Die grundsätzlichen Ergebnisse dieser Zusammenarbeit wurden bereits vielfach publiziert und in Fachkreisen eingehend diskutiert; sie erscheinen somit als wissenschaftlich abgesichert“ — heißt es lapidar im Vorwort.

Wer die knapp 170 Seiten dieses Buches ein-, zweimal und des besseren Verständnisses wegen noch öfter liest, hat mehr gewonnen als eine internationale wissenschaftliche Absicherung einer faszinierenden Prognosestudie. Ein neues und neuartiges Spektrum Austriae. Wenn, was erfreulich ist, seit vielen Wochen der Bericht des Klub von Rom . (Mea-

dows, „Grenzen des Wachstums“) auf der österreichischen Bestsellerliste zu finden ist, müßte erst recht dieses Buch zum Bestseller werden. Und wie jenes Buch den Untertitel „Zur Lage der Menschheit“ trägt, gebührte dem Bericht von Gasperi-Millendorfer der Untertitel „Zur Lage der Österreicher“; denn hier wird erstmals eine von der Wiener Studiengruppe gemeinsam mit der Universität von Virginia ausgearbeitete hochmoderne Methode zur interdisziplinären Untersuchung von komplexen Systemen unter dem Namen „Global Systems Dynamics“ angewandt.

Am Beispiel Österreichs werden verschiedenste gesellschaftliche Teilbereiche erfaßt, deren Zusammenhänge meßbar beschrieben und für Österreich zutreffende, ja frappierende Feststellungen getroffen, die nicht ohne Konsequenzen bleiben dürften. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die sozialen Systeme und bezeichnet in diesem Zusammenhang die Anwendung dieser Methode als „Allgemeine Produktionsfunktion“, was besagen will, daß sie „für alle Länder der Welt Geltung hat und alle jene Bereiche der Gesellschaft umfaßt, die für die Entwicklung relevant sind, also neben der Wirtschaft zum Beispiel auch Bildung, Politik und Kultur.

Die Verfasser zählen zu den drei klassischen Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit noch weitere zum Teil immaterielle Faktoren beziehungsweise Komponenten eines „Produktionsfaktors höherer Ordnung“ wie Bildung, Forschung und gesellschaftliche Struktur. Kapital und Bildung ergänzen einander und sind nur begrenzt austauschbar: Weist ein Land etwa zuwenig Bildung im Vergleich zu seinem Kapitalstand auf oder umgekehrt, dann wird der jeweils kleinere Faktor zum Engpaß. Ebenso herrscht eine Gleichgewichtsbindung zwischen Kapital und Qualifikation der Arbeit: weicht ihre Relation vom Optimum ab, so begrenzt der kleinere Faktor die Leistungsfähigkeit. Am aktuellen Beispiel der österreichischen Papierindustrie zeigen die Verfasser: „Strukturbereinigungen, Konzentrationsmaßnahmen, Verbesserung der Standarte usw. allein werden wenig nützen, wenn nicht mit jeder Erhöhung der Kapitalintensität gleichzeitig auch die Qualifikation der Arbeit gesteigert wird.“

Österreichs Bildungsstruktur sei ungleichgewichtig, da ein Engpaß in der Sekundärbildung bestehe. Die Verfasser weisen nach, daß wir im internationalen Vergleich von fünfundachtzig Ländern bei der Hochschulbildung den zwölften Rang, bei der allgemeinen Mittelschulbildung den 42. Rang einnehmen. In der Tat haben wir einen „geradezu unwahrscheinlich großen“ Überhang an Hochschulabsolventen: Die Relation zwischen Mittel- und Hochschulbildung liegt in Österreich bei 1:3,5; richtig jedoch wäre ein Verhältnis 1:6,5. Das führt zu zwei verhängnisvollen Folgen: zur Abwanderung von Akademikern ins Ausland und zur Abdrängung hochqualifizierter Kräfte in mittlere Positionen. Daher der Vorschlag, die Matura mehr und mehr als Abschluß eines eigenständigen Ausbildungsweges aufzufassen und nicht, wie es heute vorwiegend der Fall ist,. als Reifetest für das Hochschulstudium. Wer (in großen und kleinen Betrieben und auch) in Ämtern der Landesregierungen oder in Ministerien beobachten konnte, was dort Maturanten Hervorragendes zu leisten imstande sind, kann dem — abgesehen von der Entlastung der Hochschulen und dem früheren Eintritt in gesuchte Berufsstellungen — nur beipflichten.

Die Forschung ist eine notwendige Voraussetzung, um die wirtschaftlichen Erträge zu steigern, leider aber erfolgt der technische Fortschritt in Österreich mehr durch Importe von Maschinen und Lizenzen als durch eigene Forschung. Unbedingt erforderlich wäre daher die Ausweitung der Ausgaben für die Forschung auf 1.4 Prozent des Brut-

tonationalprodukts. Aber auch die Erhöhung der Forschungsausgaben bedeutet noch keine hinreichende Bedingung für Wirtschaftswachstum: „Die Forschung muß in sich effizient sein, das heißt Forschungsergebnisse und Aufwendungen müssen zueinander in einem günstigen Verhältnis stehen. Voraussetzung dazu ist: Optimale Relation zwischen Kapital (Österreich: Trend zu einer zu geringen Kapitalausstattung), Bildung (Österreich: Engpaß bei den hochqualifizierten Hilfskräften der Forschung) und Struktur (Österreich:

organisatorische Mängel in Wechselwirkung mit effizientem Verhalten, wie geringe Bereitschaft zu Teamarbeit und geringe Informationsfreudigkeit).“ Und noch ein immaterieller Faktor: Ein weiteres Handikap für die Forschung in Österreich ist die zu geringe Bereitschaft zum finanziellen Risiko...

Die vernachlässigte Struktur

Der wichtigste, interessanteste und eigenständigste Abschnitt des Buches geht von der These aus, daß die Hauptprobleme unseres Landes mit ziemlicher Sicherheit im Bereich der strukturellen Beziehungen liegen. In der Verbesserung der Struktur liegen für Österreich noch große Wachstumsreserven: Dank besserer Struktur ist das Einkommen in Nordwesteuropa bei gleichem Einsatz von Kapital und Bildung um ungefähr 70 Prozent größer als in Österreich!

Als einen wichtigen Ansatzpunkt für zweckmäßige Umstrukturierungen nennen Gasperi-Millendorfer die in Österreich vorherrschenden zen-tralistischen Tendenzen (starker staatlicher Einfluß, hoher Grad der Zentralisation von Entscheidungsund Informationsprozessen, starker Anteil des staatlichen Eigentums am Produktionsfaktor Kapital, Uberwiegen der öffentlichen Hand bei der Verteilung des Bruttonationalpro-dukts) und dementsprechend einen spürbaren Mangel an Dezentralisation. Die Verfasser gehen in diesem Zusammenhang der Frage nach, inwieweit „die zentrale Steuerung von Strukturen, insbesondere dann, wenn sie von politischen Instanzen stark beeinflußt wird, auch die Motivationsmuster der Individuen mitbestimmt“:

Motivationen und Wertvorstellungen werden als wichtige Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung hervorgehoben. Wie steht es damit beim Durchschnittsösterrei-

cher? Aus einer Fülle von verschiedenartigen, jedoch zusammenhängenden und vereinbaren Informationen werden für den Typ des Österreichers hervorgehoben: sein Individualismus, der positiv in einem stark ausgeprägten Verlangen nach persönlichem Glücklichsein, in einer relativ positiven Beziehung zur Autorität und zur Ehrenhaftigkeit, in einer hohen Leistungsmotivation, aber auch negativ in einem starken Sicherheitsbedürfnis, in Egozentrik und mangelnder Konsequenz zum Vorschein kommt. Der hohe Anteil

der Aufwendungen für soziale Sicherheit, die vergleichsweise geringen Aufwendungen für das Gesundheitswesen, der Vorrang der persönlichen Sicherstellung vor der Sicherung des Gemeinwesens werden in Ländervergleichen anschaulich herausgestellt: „Wenn Österreich auch bei den Ausgaben für soziale Sicherheit an der Spitze der Industrieländer liegt, so nimmt es bei den Ausgaben für die Landesverteidigung unter europäischen Ländern (mit Ausnahme von Luxemburg) den letzten Platz ein!

Der Blick auf die vielen internationalen Vergleiche, die Österreich im unteren Feld, sozusagen auf der Schattenseite finden lassen, ist keineswegs ermutigend, oft aber aufrüttelnd: bei der Beurteilung ihrer Lebenssituation sind die Österreicher vergleichsweise eher unzufrieden, bei der Einschätzung ihrer zukünftigen Entwicklung sind sie eher pessimistischer als andere Nationen, die Streßindikatoren (Selbstmord, Mord, Alkoholismus, Scheidungsrate, psychosoziale und psychosomatische Erkrankungen, Verkehrsunfälle) erweisen den Österreicher als Objekt vielfältiger Belastung und dadurch im höchsten Streßniveau. Der Einfluß der Streßindikatoren auf die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes sollte nicht unterschätzt werden.

Die Diagnose von Gaspari-Millen-dorfer ergibt für den Österreicher schließlich folgende Grundmängel:

• Isolierung, das heißt Mangel an Offenheit Österreichs gegenüber der Welt und des Österreichers gegenüber seiner sozialen Umwelt;

• gestörte zwischenmenschliche Beziehungen, die zum Teil mit der relativ starken individuellen Ausrichtung (zum Beispiel Rücksichtslosigkeit beim Autofahren) zusammenhängen;

• strukturelle Mängel, die eine Ent-

faltung des einzelnen nicht ausreichend gewährleisten und im Widerspruch zur hohen Leistungsmotivation stehen:

• Mangel an Optimismus und Zukunftsorientiertheit, sowie ängstliche Betonung der materiellen Belange.

Was bei uns allgemein so selten ist, daß nämlich auf ausführliche, wissenschaftlich fundierte Diagnosen auch eine einleuchtende, ausführliche und konkrete Therapie folgt, hier wird sie zum aufregenden und befreienden Ereignis. Die Verfasser schlagen Maßnahmen vor, die an den ^aufgezeigten Grundmängeln ansetzen und eine Verbeserung des Strukturfaktors, der immerhin mehr als 40 Prozent neben nur 20 Prozent des Faktors Kapital und weniger als 40 Prozent des Faktors Bildung zur jährlichen Wachstumsrate beiträgt, in Österreich herbeiführen könnten: Überwindung der kollek-

tiven und der individuellen Isolierung, stärkere. Dezentralisation und Förderung zukunftsbezogenen Denkens.

Die Verfasser folgern aus der von ihnen entwickelten „Allgemeinen Produktionsfunktion“, daß jede monokausale Erklärung des Entwicklungsprozesses abzulehnen ist: „Weder Kapital allein (Wachstumstheorie, Stufentheorie von Rostow) noch Bildung allein (Bildungsökonomie), noch Strukturveränderungen allein (Neomarxismus, Neue Linke) vermögen den Entwicklungsprozeß zu erklären.“ Wenn man noch dazu bedenkt, daß bei einem jährlichen realen Wachstum pro Kopf, wie es die Verfasser für Österreich zumindest bis 1975 mit 4,5 Prozent voraussagen, 1,0 Prozent auf Kapital, 1,6 Prozent auf Bildung und 1,9 Prozent auf Struktur entfallen, daß ferner beim Produktionsfaktor Kapital der geringste und beim Produktionsfaktor Struktur der stärkste Nachholbedarf gegenüber den westlichen Ländern besteht, dann werden die Verantwortlichen in Parlament, Regierung und Interessenvertretungen sich in Hinkunft noch wesentlich mehr mit dem Strukturfaktor schlechthin, mit dem durch den Mangel an mittlerer Bildung verursachten Engpaß und dem harmonischen Zusammenwirken aller drei Faktoren befassen müssen. In der ausgezeichneten Zusammenfassung fordern die Verfasser, Kapital und Bildung müßten einander noch besser ergänzen, in der wirtschaftlichen Praxis müßte das notwendige Gleichgewicht zwischen Produktionskapital und qualifizierter Arbeit angestrebt werden. Gleichzeitig müßte die Intensität dieser beiden Größen wachsen und besonderes Augenmerk dem Faktor Struktur zugewendet werden sowie „überhaupt dem gesellschaftlichen Wandel in unserem Lande“.

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