6864317-1977_49_01.jpg
Digital In Arbeit

Das notwendige Umdenken

Werbung
Werbung
Werbung

Das Unbehagen ist allgemein. Die Fragen, welche Fehlentwicklungen der moderne Sozialstaat genommen hat, wie er angesichts seiner Überforderung und der allgemeiner} wirtschaftlichen Misere seine Aufgaben weitererfüllen kann, beschäftigten nicht nur die Debatte über das Kapitel Soziales im Bundeshaushalt. Sie gehören seit Monaten zum Repertoireprogramm der Sozialpolitiker aller Richtungen und Ebenen. Das Defizit der Spitäler soll durch das neue Belastungspaket gemildert werden, die Pensionen kommen mit der Inflation nicht mehr mit, die Vollbeschäftigung soll durch eingeschobene „Schultage” vorgetäuscht werden. Götterdämmerung des Sozialstaates?

In den vergangenen 30 Jahren, aufbauend auf dem, was schon in der Monarchie und in der Ersten Republik begonnen worden war, ist ein-dichtes Netz sozialer Sicherheit geknüpft worden, das nicht nur den vorher benachteiligten Schichten einen mit andern sozialen Gruppen vergleichbaren sozialen Status gebracht hat, sondern das auch heute noch als Grundabsicherung gegen die „normalen” Risken des Lebens für alle unentbehrlich ist. Dort aber, wo der kalkulierbare Risiko-Mittelwert dem einen Überflüssiges bietet, dem anderen aber deswegen Notwendiges vorenthalten muß, kann dieses Prinzip der kollektiven Gleichheit, der quantitativen Sozialpolitik nicht mehr befriedigen. Trotz der alle fünf Jahre erfolgten Verdoppelung des Sozialversicherungsaufwandes; trotz seines! Steigens in 25 Jahren von drei auf 88 Milliarden; obwohl heute bereits ein Drittel des Brutto- Nationalproduktes, die Hälfte des Budgets in die soziale Umverteilung fließen, bleiben Härtefälle übrig, kann nicht jedem so geholfen werden, wie er es brauchte.

Als Auftakt auf die Sozialdebatte im Nationalrat hielt die Volkspartei kürzlich ihre dritte Sozialpolitische Konferenz ab, in der diese Zahlen vorgelegt wurden. Die Forderung, von der quantitativen zur qualitativen Sozialpolitik überzugehen, war begleitet vom Aufruf zum Umdenken, vor allem in Gestalt einer kritischen Prüfung alles dessen, was bisher als Errungenschaft des Sozialstaates anerkannt wurde. Wie der Gärtner jedes Jahr seine Bäume Vom Wildwuchs befreien, abgestorbenes Geäst entfernen muß, wird man auch in der Sozialpolitik überflüssig gewordene Maßnahmen streichen müssen. Die 30 Schilling Beihilfe, die vor 25 Jahren die damals hart erscheinende, aber notwendige Erhöhung der gestoppten Mietzinse abgelten sollte, ist nur eines von mehreren Fossilien vergangener Zeiten.

Das Umdenken muß zunächst die schichtenspezifischen Strukturen erfassen: nicht mehr der - längst zum Arbeitnehmer gewordene - Arbeiter kann mehr Ziel spezieller Bemühungen der Sozialpolitik sein, sondern jene Gruppen der Bevölkerung, die heute noch zwischen den Maschen des Netzes durchfallen - kinderreiche Familien, Gastarbeiter, alleinstehende Alte, Behinderte, schließlich jeder, der nicht in die gewohnten Schachteln einzuordnen ist.

Das Umdenken muß dann weitergehen zur Frage, wie die hier auftauchenden gruppenspezifischen oder individuellen Nöte besser als bisher bekämpft werden können. Herbert Kohlmaier nannte ein Beispiel: Bevor man sich den Kopf darüber zerbricht, wie man nach dem neuen Scheidungsrecht sämtlichen Witwen eines verstorbenen „Paschas” eine volle Pension verschafft, müßte Klarheit darüber bestehen, wie der Familie eines tödlich verunglückten Dreißigjährigen geholfen werden kann.

Das Umdenken muß dann - schon weil hier echt gespart werden kann - zur Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips führen: Nicht der Staat, sondern die private Selbsthilfe, der Nachbar, Organisationen, Gemeinde, Bezirk und Land sollen, in aufsteigender Reihe, solange Hilfe gewähren, als sie in der Lage sind, bevor die jeweils nächsthöhere Instanz einspringen niuß. Auch hier ein Beispiel: In Poys- dorf hat ein privater Verein die Für-, sorge für die hilfebedürftigen Alten in die Hand genommen, bewahrt sie vor der Notwendigkeit, ins Heim abgeschoben zu werden - und funktioniert besser und billiger als es jeder amtliche Apparat könnte.

Das Umdenken darf nicht an unseren Grenzen haltmachen — unsere sozialen Verpflichtungen schließen die Dritte Welt mit ein. Das Subsidiaritätsprinzip hört nicht beim Staat auf — es sollte aber auch die Methoden der Entwicklungshilfe bestimmen.

Das Umdenken verlangt weiter von den Sozialpolitikern selbst, ihre Sorge nicht nach der Frage zu orientieren, wie viele Wählerstimmen eine neue Maßnahme bringen kann, wieviel Mitglieder ihres Verbandes sie zu vertreten haben. Nicht das Kollektiv darf zählen, sondern der Mensch muß es.

Und nicht zuletzt an diesen richtet sich die wichtigste Forderung nach Umdenken: bei sich selbst anzufangen. Das starke, aber anonyme Netz der Sicherheit brachte als negative Kehrseite die Verstärkung des Egoismus, den Verlust des Verantwortungsgefühls dem Nächsten und der Gemeinschaft gegenüber. Was mir zusteht, muß ich auch bekommen; es zahlt ja die Krankenkasse - mit dieser Mentalität werden wir aus dem Dilemma nicht herauskommen.

Die Sozialpolitiker sprechen von Sozialgesinnung, von Sozialmoral. Ich spreche lieber von Nächstenliebe, vom Auftrag des Evangeliums. Das sollte zumindest in unseren Kreisen das Umdenken erleichtern.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung