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Das polnische Beispiel

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Die beiden Romane von Andrzej Szczypiorski, „Eine Messe für die Stadt Arras“ und „Die schöne Frau Seidenman“, sind, was die Rezeption betrifft, in luftleerem Raum entstanden: in einem Raum, dessen Fülle an Leid und Wahnsinn in diesen Büchern zwar verdichteten sprachlichen Ausdruck gefunden hat, deren mögliche Leserschaft aber lange Zeit gehindert wurde, die beiden Werke kennenzulernen. „Die schöne Frau Seidenman“ ist in Polen bis heute nicht erschienen. Umso erfreulicher ist es, daß nun beide bedeutenden Romane ein

großes Publikum gefunden haben — zumal auch im deutschen Sprachraum, wo die polnische Literatur meistens kein Echo hat.

Die Bücher, von denen hier die Rede ist, sind vor allem polnische Romane, auch wenn das eine die Stadt Arras zum Schauplatz hat, doch wirken sie gerade durch ihr Polentum europäisch. Es gibt kein anderes Land auf unserem Kontinent, das so oft zerrissen und mit brutalster Gewalt unterdrückt worden wäre wie gerade Polen, und es gibt kein zweites, das fähig gewesen wäre, das erlittene Leid derart vital geistig zu sublimie- ren: nicht nur in Werken des Aufruhrs, in der Poesie der übersteigerten Todesvisionen, in den tröstlichen Abbildern sarmati- scher Herrlichkeit, in Form schonungsloser intellektueller Analysen oder durch die geradezu überirdisch anmutende Sanftmut einer fast wortlosen Lyrik, sondern auch mit den verbitterten Ausdrucksformen der selbstspöttischen Satire.

In Wien muß auch daran erinnert werden, daß Kaiserin Maria Theresia den Beschluß zur ersten Teilung Polens zwar widerwillig, ja unter Tränen, aber letztlich dann doch unterzeichnet hat und dadurch unfreiwillig zum Urtyp einer europäischen Schizophrenie geworden ist, denn Polen wurde von da an — bis zum schändlichen Pakt zwischen Hitler und Stalin — immer wieder zum Opfer schonungsloser Kondottieri und ihrer Handlanger, die sich — oft genug melancholisch seufzend, Krokodilstränen in den Augen - auf die sogenannte „historische Notwendigkeit“ beriefen.

In dieser aber steckte nicht nur die nackte Gier nach Macht, son-

Die FURCHE ist stets darauf bedacht, den Blick über die Grenze zu fördern, das Verständnis für Entwicklungspolitik wachzuhalten und die Notwendigkeit bewußt zu machen, zum Einswerden der Menschheit ständig aufs neue beizutraaen.

dem auch jene Massenhysterie, auf die sie sich, nebst den Bajonetten, stützen konnten, und eben dieser Wahn — nämlich die Tatsache, daß gerade die hemmungslosesten Verbrecher in der Lage waren, ihre Herrschaft auf die jubelnde Zustimmung der Volksmassen zu stützen - ist der eigentliche Gegenstand des Romans „Eine Messe für die Stadt Arras“.

Andrzej Szczypiorski schildert in diesem Buch jenen Vorgang, der alle menschlichen Werte in ihr Gegenteil umzustülpen vermag, mit der begeisterten Zustimmung einer hysterisch gewordenen Mehrheit, die nur auf die Gelegenheit wartet, sich unter den Flaggen der Maßlosigkeit und der Mordlust zu versammeln.

Andrzej Szczypiorski hat nicht nur die Grausamkeit und alltägliche Trivialität der letzten Jahrzehnte durchlitten, sondern sie in seinem Roman zur Parabel verdichtet: eine Arbeit, die bei tiefstem Fühlen größte intellektuelle Klarheit erfordert. Polnisch und dadurch zutiefst europäisch aber ist diese Stadt Arras dadurch, daß sie vielleicht nur in dem Land derart eindringlich dargestellt werden konnte, das gerade in seinem Leiden und in seiner Größe zum

Sinnbild europäischer Grausamkeiten und Hoffnungen geworden

ist.

Der Roman „Die schöne Frau Seidenman“ schildert die Zeit, in der die Hölle bereits triumphiert hat, und zeigt die Möglichkeit, selbst nach dem totalen Sieg der Unmenschlichkeit jene Kraft der Seele zu bewahren, die sich oft nicht an großen Ideen, sondern bloß an Trugbildern, an dumpfen Gefühlen (in denen sich so etwas wie Gewissen regt), ja an eigenen Egoismen entzündet, die aber selbst im tiefsten Elend, von einem spielerischen Element beflügelt, zu wirken vermag.

Mich hat gerade diese Leichtigkeit des Verwebens unterschiedlicher und an sich gewaltiger Motive, diese Traumfähigkeit in der Tragik, diese Grazie, mit der sich der menschliche Geist selbst noch im Zustand der schrecklichsten Verzweiflung zur Lust des Spiels erhebt, an Mozarts Musik erinnert, auch im resignierten Schluß des Romans, der wieder die Frage nach dem Sinn stellt, indem er die schöne Frau Seidenman zwar aus der einen Hölle rettet, sie aber dann in die zweite und in die dritte Hölle hinabführt. Damit ist aber das Thema des Romans „Eine

Messe für die Stadt Arras“ wieder angeschlagen.

In dieser Beständigkeit erweist sich nicht nur der Charakter eines einzelnen, der sein Schicksal bestimmt, sondern auch die Einheit von Ethik und Ästhetik. Denn Vorgänge, wie sie sich in der Stadt Arras abgespielt haben, können sich auch in der Gegenwart und in der Zukunft überall ereignen. Das heißt: der Epiker muß auf der Hut sein, vor allem als Mensch, der sich halb bewußt, halb aber einer inneren Neigung folgend entschlossen hat, Zeugnis abzulegen und sich dabei dem Sinn und der Sinnlichkeit der Sprache anzuvertrauen.

Die Arbeit jedes Epikers, der diesen Namen verdient, ist deshalb zukunftsbezogen. Und also sind die Romane von Andrzej Szczypiorski auch Mahnungen: die Barbaren befinden sich unter uns, ja in uns selbst, und wir brauchen — sei es unter den schlimmen Lebensbedingungen wahnwitziger Diktaturen, sei es inmitten des falschen, da geistlosen Freiheitsrausches eines zügellosen Hedonismus — alle Seelenkraft, um den neuen Ausbrüchen der Maßlosigkeit und der Mordlust zu begegnen.

Ohne Andrzej Szczypiorski wüßten wir weniger über die schreckliche Verführbarkeit, aber auch über die spielfreudige Opferbereitschaft, über die dumpfe Triebhaftigkeit, aber auch über die erstaunliche moralische Kraft, über die träge Gleichgültigkeit, aber auch über die überraschende Liebesfähig- keit des Menschen.

Die Hoffnung wäre allerdings ohne die Form nicht erkennbar. Das ist der Punkt, an dem Ethik und Ästhetik ineinanderfließen, denn der Versuch, die Welt zu erkennen und die Unterwelt durch Benennung zu bannen, hat für den Epiker nur in der Sprache Bestand. Seine eigentliche Existenz ist die Sprache, und erst in* seinem zweiten Dasein wird er trachten, in den Verlauf der Dinge, wie es Andrzej Szczypiorski nicht nur einmal getan- hat, einzugreifen nicht nur als Mensch, sondern auch als Autor, der sich aus guten Gründen genötigt fühlt, die Welt gleichsam umzudichten.

Andrzej Szczypiorski hat die Herrschaft der Mörder überlebt, hat die Schrecknisse zweier Höllen durch seine Menschlichkeit und sein Werk zweifach überwunden. Wir, seine Leser, dürfen auf seine nächsten Bücher warten.

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