7023944-1989_04_03.jpg
Digital In Arbeit

Das Privatkapital ist frei

Werbung
Werbung
Werbung

THÜBCHE; Herr Minister, das poststalinistische System hat Ungarn in eine tiefe Krise gestürzt. Den Ausweg suchen die Reformer nun auf politischer Ebene im Pluralismus, im ökonomischen Bereich in der sogenannten gemischten Wirtschaft. Welche Rolle kommt dabei dem Markt zu?

REZSÖ NYERS: Die Grundlage der modernen Wirtschaft ist der Markt mit seiner selbstregelnden Funktion. Nach unserer Auffassung muß er im Alltag der Verteilung und der Entwicklung der verschiedenen Branchen eine koordinierende Rolle spielen.

Außerdem gibt es aber eine relativ bedeutende staatliche und gesellschaftspolitische Einwirkung auf die Wirtschaft. In diesem — Samuelsonschen — Sinne handelt es sich bei uns um ein gemischtes Wirtschäftsmodell, wobei freilich auch die Aspekte der sozialistischen Eigentumsverhältnisse dazukommen. Der Eigentumsfrage ist nicht nur vom Stalinismus, sondern bis vor kurzem auch von uns eine übertriebene Bedeutung beigemessen worden. Wir sind jetzt dabei, das zu überwinden. Real gesehen sind die Eigentumsverhältnisse freilich wichtig.

Auch in dieser Hinsicht stellt unsere sozialistische Marktwirtschaft ein gemischtes Modell dar. Da geht es um die Verkoppelung von fünf verschiedenen Eigentumsverhältnissen: Das Staatseigentum im herkömmlichen Sinne; das Genossenschaftseigentum, wie es in den westlichen Ländern üblich ist; das Privatunternehmen; das sogenannte gemischte Unternehmen, das die verschiedenen Eigentumsformen zusammenfaßt; und schließlich ausländisches Eigentum. Soweit ist also unsere Wirtschaft eine gemischte.

FURCHE: Wo liegen für Sie die Grenzen der Privatisierung?

NYERS: Da kann ich nur eine prinzipielle Grenze nennen: Es ist nicht wünschenswert bei unserer sozialistischen Auffassung, daß das Privateigentum zu einem entscheidenden Faktor in der Gesell

schaft wird. Das ist jedoch, wie gesagt, eine prinzipielle und keine politische Grenze. In der Praxis müssen wir leider damit rechnen, daß das notwendige Kapital weder bei den einzelnen noch bei den Kleinunternehmern in dem Maße angehäuft wird, wie wir es für wünschenswert hielten.

Eigentlich bemühen wir uns jetzt um die Erweiterung der Rolle des Privatkapitals, da es eine der Voraussetzungen der Effektivität unserer Wirt schaf tsentwick-lung ist. Deshalb ist jetzt auch die Reprivatisierung in solchen Fällen im Gange, wo man die Verstaatlichung übertrieben hat. Als Beispiel kann ich da die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nennen. Ich wiederhole also: Dem einheimischen Privatkapital werden keinerlei Beschränkungen auferlegt.

FURCHE: Nun kann auch westliches Kapital ungehindert ins Land strömen. Im Sinne der Ausbeutung stheorie des klassischen Marxismus wird also demnächst

der sozialistische Arbeiter an Ort und Stelle ausgebeutet. Ist das nicht ein Widerspruch?

NYERS: Wir müssen die alte Theorie der Ausbeutung auf die heutigen Verhältnisse hin konkretisieren. Wir müssen auch einsehen, daß die Ausbeutung in einem von starken Arbeitnehmerverbänden kontrollierten Kapitalismus anders zum Ausdruck kommt als bei uns, wo beispielsweise ein Werktätiger durch die von ihren realen Wertverhältnissen entfremdeten Preise ausgebeutet wird.

Diesen Widerspruch müssen wir überwinden. Damit will ich nicht sagen, daß die Arbeiter dann vom staatlichen und nicht-staatlichen Kapital nicht mehr ausgebeutet werden. Doch nach unserer Auffassung ist es schon besser, wenn das Kapital ausbeutet und dabei Mehrwert und Profit abwirft, als wenn es nicht ausbeutet und die Unternehmen defizitär werden.

Wir müssen auf jeden Fall die Vorstellung überwinden, daß mit

der Verteilung des durch die Enteignung des Kapitals gewonnenen Mehrwertes aus Armut Wohlstand wird. Mit Verteilungen dieser Art können wir keinen Sozialismus schaffen. Auf keinen Fall. Das sozialistische Ziel bedeutet ja letztlich nichts anderes, als mit HUfe einer die Verteilung moderierenden Einkommenspolitik die Heranbildung von Armen und Reichen zu vermeiden, wozu es sonst in jeder Gesellschaft spontan kommt.

FURCHE: Wann erwarten Sie die ersten Ergebnisse dieser Reform?

NYERS: Ich spreche lieber von Verbesserungen als von Ergebnissen. Ich gehe davon aus, daß um die Jahreswende 1990/91 in Ungarn die Stagflation zum Stillstand gebracht werden kann. Wir müssen dabei den Widerstand der Bürokratie der Apparate und der Lobbys überwinden. Dabei kommt sowohl der Partei als auch den gesellschaftlichen Bewegungen eine maßgebende Rolle zu.

Politisch leben wir ja bereits im Pluralismus, obwohl dessen juristische Manifestation noch aussteht. Die Interessenverbände müssen aber noch weiter plurali-siert werden, damit sie sich effektiv erweisen können.

Ich messe auch der deutlichen Verbesserung der weltwirtschaftlichen Position unseres Landes ein entscheidendes Gewicht zu. Sobald es uns gelingt, ein Brutto-nationalprodukt-Wachstum von jährlich zwei Prozent zu erreichen, treten wir in die Phase der Verbesserung ein. Doch auch dann wird unsere Wirtschaft weitere weltwirtschaftliche Spritzen benötigen, damit sie in ihrem Wachstum beschleunigt werden kann.

Mit Rezsö Nyers (65), Vater der 1968 eingeführten und später abgewürgten ungarischien Wirtschaftsrefomi, im Mai 1988 in die Politik zurückgekehrt, Politbürotnitglied, sprach GÄbor Kiszely.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung