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Das Publikum mehr lieben

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Fromme Weisen im Musical-Sound. Der Film von Gabor Koltay heißt „Julianus" und spielt im 13. Jahrhundert. Damals zog ein Dominikanermönch aus, um die Urheimat der Ungarn irgendwo zwischen Ural und Schwarzem Meer zu finden. Es war mehr als zwei Jahrhunderte her, seit sich das Reitervolk nach schweren inneren Auseinandersetzungen dazu durchgerungen hatte, in der pannoni-schen Ebene seßhaft zu werden.

Der erste König, der später heiliggesprochene Stephan, gilt als der große Einiger der Stämme, die sich allerdings in Europa immer noch und immer wieder fremd fühlten. Der Mönch Julianus nun bricht nach gelehrten Studien in Italien in die alte Heimat auf, die allerdings von der Überlieferung nur recht vage beschrieben wurde. Und die Verkehrsmittel wie die Orientierungshilfen waren weitaus bescheidener, als sie etwa ein Vierteljahrtausend später Kolumbus zur Verfügung standen. Kein Wunder, daß Julianus in der endlosen Wüste beinahe verdurstet. Ein Wunder jedoch, daß ihn im letzten Augenblick eine Karawane findet und ihm den Weg zu den fernen Landsleuten weist.

Der Film ist mit großem Aufwand gedreht und erfreut das Auge mit eindrucksvollen Landschaftsaufnahmen. Es wurden schon mehrere Folgen gezeigt und fanden beileibe nicht nur Zustimmung. Die linksliberale Opposition sieht darin ein Indiz mehr für die Wendung der jetzt herrschenden Mehrheit zum Volkstümlichen, zum engen Nationalgefühl, zur nicht mehr zeitgemäßen völkischen Mystik. Sie denkt dabei allerdings in erster Linie an den Roman, der dem Film zugrunde liegt.

Jänos Kodolany schrieb "seinen „Bruder Julianus" (eine historisch nachgewiesene Person) Mitte der dreißiger Jahre, als in Ungarn ähnlich „ungarngetümelt" wurde wie in Deutschland deutschgetümelt. Kodolany erfand sogar eine Sprache, wie sie die mittelalterlichen Ungarn gesprochen haben könnten.

Wer nun aber aus einem einzelnen Kunstwerk - und diese Einschätzung hat der Film verdient - auf das gesamte heutige Kulturleben in Ungarn schließen wollte, läge falsch. Gabor Koltay selbst hat vor einigen Jahren ein Musical über den heiligen König Stephan verfilmt, das damals in Freilicht-Aufführungen einen Massenandrang bewirkte, dem sich die noch regierenden Reform-Kommunisten nicht verschließen konnten. Das Musical wurde als opulenter Film ein Riesenerfolg. Den „Julianus"-Film konnte Koltay mit italienischer Beteiligung drehen. Auch italienische Schauspieler wie Raf Vallone wirkten mit.

Vergangenheitsbewältigung

Der ungarische Film zeigt große Vielfalt. Entwicklungen gehen weiter, die schon in den Jahren vor der Wende zu beobachten waren. Die großen Dokumentär- und Spielfilme zur Vergangenheitsbewältigung hatten den Zweiten Weltkrieg gründlich untersucht und waren zu Kädärs Zeiten schon mit dem Revolutionsjahr 1956 beschäftigt. Jetzt nimmt ein Dokumentarstreifen über den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen den Anlaß wahr, um Menschen über ihre nicht immer erfreulichen Erfahrungen mit den Russen berichten zu lassen. Auch in einem Spielfilm, der im Frühjahr 1945 handelt, darf nun erwähnt werden, daß die Russen bei ihrem Einmarsch viele Frauen vergewaltigt haben.

Man kann es aber auch ganz anders sehen. Andor Lukäts hat Anton Tschechows „Drei Schwestern" in einem Wohnblock für sowjetische Soldaten und ihre Angehörigen angesiedelt, kurz vor dem Abzug aus Ungarn. Die drei Töchter eines Generals, einige Offiziere, der alte Militärarzt sind das Personal, das in den bescheidenen Wohnungen und einem Hof mit Wäscheleinen und Teppichstange lebt, liebt und leidet. Die Übertragung der Handlung in dieses Milieu geschieht mitunter etwas gequält, vor allem, weil sich Lukäts möglichst genau an die Vorlage hält. Aber die Sehnsucht der Schwestern nach Moskau und die Schlußworte Olgas bekommen einen neuen Sinn: „Es kann nicht mehr lange dauern, und w.ir erfahren wofür wir leben, wofür wir leiden... Ach, wenn man es wüßte, wenn man es wüßte"!" Statt der Musik der abziehenden Garnison hört man nun das Dröhnen der schweren Lastwagen, die die einst so stolze Sowjet-Armee heimwärts transportieren, in eine ungeklärte Zukunft.

Der ungarische Film hat auch unter erschwerten wirtschaftlichen Bedingungen einen starken Lebenswillen. Das Potential an Schauspielern, Kameraleuten, Komponisten und Regisseuren ist vorhanden. Woran es fehlt, sind die wirklich zeitgemäßen Themen. Was die ungarischen Filmemacher vor allem lernen müssen, kennenlernen müssen, ist das Publikum, das sie bisher viel zu wenig beachtet haben. Ihr international erfolgreicher Kollege Istvän Szabö hat es in einem Interview deutlich gesagt: sie kennen und sie lieben ihr Publikum zu wenig.

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