Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Das Rätsel Leben
Wenn wir nach dem Ursprung des Lebens fragen, müssen wir sehr wohl zwischen der — aufgrund von Naturgesetzen — prinzipiell möglichen und der geschichtlich wirklichen Abfolge von Ereignissen unterscheiden. Die Studienobjekte des Biologen sind die Lebewesen, in denen der historische Prozeß manifest geworden ist Die Rekonstruktion des Evolutionsverlaufes ist auf historische Zeugnisse angewie-
sen. Soweit diese vorliegen, deuten sie auf einen gemeinsamen Ursprung allen Lebens hin. Auf den verschiedenen Stufen des Lebens offenbaren sich neben individueller Variabilität Ubereinstimmung und Universalität der zugrunde liegenden physikalischen und chemischen Ordnungsprinzipien. Wir können diese Prinzipien nur erkennen, indem wir von der Wirklichkeit abstrahieren; denn die Physik befaßt sich nicht mit den Prozessen an sich, sondern allein mit den in den Prozessen wiederkehrenden Regelmäßigkeiten.
Wir sehen an einem schwülen Sommertag ein Gewitter heraufziehen und beobachten in den sich auftürmenden Wolkenhaufen die mannigfaltigsten und eigenartigsten Formen und Gebilde. Kein Physiker wäre in der Lage, irgendeine dieser Strukturen quantitativ vorherzusagen oder gar im Detail zu berechnen. Dennoch ist das
zugrunde liegende Phänomen vollkommen verstanden.
Leben ist nicht eine der Materie schlechthin innewohnende Eigenschaft. Leben ist zwar an Materie geknüpft, erscheint aber nur unter sehr spezifischen Voraussetzungen und äußert sich dann in sehr vielfältigen und individuell charakteristischen Merkmalen. Es ist daher folgerichtig, die Frage nach der Natur des Lebens mit der Frage nach seiner Entstehung in Beziehung zu setzen. Das Prinzip Leben wird sich uns am ehesten erschließen, wenn wir herausfinden: Wie kann Leben entstehen? Dies ist eine Frage, die an den Physiker gerichtet ist, mag er sich als Biophysiker, Biochemiker oder Molekularbiologe bezeichnen. Wie Leben wirklich entstanden ist, kann hingegen allein vermittels historischer Zeugnisse (möglicherweise) geklärt werden.
Die Nichtberücksichtigung der Unterschiedlichkeit beider Fragestellungen hat schon zu manchen Mißverständnissen geführt. Es gibt keine physikalische Theorie für die historische Lebenswer-dung. Die Entstehung des Lebens muß als eine Kette von Ereignissen angesehen werden, deren detaillierte Abfolge weder rekonstruiert noch vorhergesagt werden kann. Gleichwohl hat sie sich unter dem steuernden Einfluß von Naturgesetzen vollzogen.
Der Autor ist Chemiker, Physiker, Evolutionsforscher und Nobelpreisträger (1967). Gekürzter Text aui Eigens neuemBuch „Stufen zum Üben“. Piper Verlag 1987. 312 Seiten, Ln.. öS 310,-.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!