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Das Sandkastenbeispiel des Moshe Dayan

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Der israelische Soldat, der uns im Wagen während der Fahrt durch die Stadt Gaza begleitet, seine Uzi-Maschinenpistole schußbereit, schlägt uns vor, lieber die Fenster unseres Wagens — er hat ein Jerusalemer Kennzeichen — hochzukurbeln: Aus den dunklen Tornischen der Häuser können leicht Handgranaten geflogen kommen. Allein im vergangenen Jahr sind den Anschlägen der palästinensischen Freischärler fast hundert Israelis zum Opfer gefallen. Der Gaza-Streifen: mit 400.000 Einwohnern auf 350 Quadratkilometer ist er eines der dichtest bevölkerten Gebiete der Erde. 70 Prozent der Einwohner sind Flüchtlinge, die seit

1948 in Lagern leben, Flüchtlinge, die in heute zu Israel gehörenden arabischen Gebieten ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen mußten. Seit 1948, als die Briten Palästina verließen, steht dieses Gebiet unter militärischer Verwaltung, ist es ein politisches Niemandsland; Kairo ließ den Gaza-Streifen bis 1967 ebenso von einem Militärgouverneur verwalten, wie dies seit dem Sechstagekrieg die Israelis tun.

Nahezu unlösbares Problem aber für jede Verwaltung des Gaza-Streifens sind die Flüchtlinge: Mit einem Milliardenaufwand .wurden die in menschenunwürdigen Lagern lebenden Palästinaflüchtlinge von den Vereinten Nationen mit Lebensmitteln versorgt, hier stellte Schukeiri 1966 die mit chinesischen Waffen ausgerüstete palästinensische Befreiungsarmee auf, die nach seinen Worten das nur 70 Kilometer entfernte Tel Aviv zerstören und die Israelis ins Meer jagen sollte.

Nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg 1967 wurden die Flüchtlingshütten zur Operationsbasis palästinensischer Guerilleros: Iraelis und der Kollaboration mit den Okkupanten bezichtigte Araber wurden getötet oder verwundet. Mit oft drastischen Methoden erzwangen die israelischen Militärbehörden schließlich die Durchsetzung eines Entwicklungsplanes, der die Verkleinerung der zu Labyrinthen gewordenen Flüchtlingslager und damit die wirksame Bekämpfung der Guerilla sowie eine Normalisierung des täglichen

Lebens durch Schaffung einer ausreichenden — oder halbwegs ausreichenden — Zahl von Arbeitsplätzen vorsieht. Ein Stabsoffizier der israelischen Armee, Sohn eines Rabbiners aus Bosnien, meint während der Erläuterung dieses Planes nebenbei, wenn eine Armee den Friedensnobelpreis verdiente, dann die israelische, die für die Durchführung eben dieses Entwicklungsplanes verantwortlich sei. Allerdings muß der Major den ihm von dem Besucher aus Österreich sofort genannten Vergleich mit den Leistungen der k. u. k. Armee in Bosnien und der Herzegowina nach der Okkupation 1878 akzeptieren ...

Bisher letzter Schritt auf dem Weg zur Normalisierung: die Bewohner des Gazastreifens dürfen seit einiger Zeit ohne besondere Genehmigung nach Israel und in das von Israel besetzte Westjordanien reisen. Ein

Fortschritt? Der Bürgermeister von Gaza, Raschid al Schawa, ist erst ein knappes Jahr im Amt, sein Vorgänger war von der israelischen Militärverwaltung abgesetzt worden. Nun hat er auf dem schmalen Grat zwischen der notwendigen Zusammenarbeit mit den Militärbehörden und dem Vorwurf, ein Kollaborateur zu sein, zu balancieren. Trotzdem ist es ihm in dieser Zeit gelungen, zum geachteten Sprecher der arabischen Bevölkerung des Gazastreifens zu werden: Raschid al Schawa spricht von schleichender Annexion des Gazastreifens durch Israel, fordert ein UNO-Protektorat und, als letzte Möglichkeit, Selbstbestimmung für die arabischen Bewohner dieses Gebiets. Schließlich zeigt er sich auch über die zentraleuropäische Politik wohlinformiert, wenn er das Beispiel Südtirol ins Gespräch bringt.

In eines der Flüchtlingslager begleitet uns ein Araber. Es sei besser so, erklärte der Bürgermeister. Wir holen den Mann ab, Naim M. Be-saisso ist Journalist, er arbeitet gelegentlich für Agence France Press, erzählt er. Im Lager selbst sollten wir möglichst wenig stehen bleiben und sofort wegfahren, wenn wir bemerkten, daß sich Neugierige um unseren Wagen drängten — das könnte gefährlich werden und, zumindest, aufgeschlitzte Reifen oder Prügel bedeuten. Auf dem Weg in eines der Camps werden wir von einer israelischen Streife angehalten, die uns davor warnt, weiterzufahren, uns schließlich achselzuckend passieren läßt. Im Lager kleine gemauerte

Hütten, dazwischen große freie Flächen und breite Schneisen. Die Hütten, die dort gestanden sind, wurden abgerissen, um den Fedayin möglichst wenig Deckungsmöglichkeiten zu bieten. Wir werden nicht eben freundlich betrachtet, Kinder werfen uns Steine nach, einige jüngere Männer kommen näher, stellen sich wie zufällig unserem Wagen in den Weg. Erst nach einigen arabischen Worten unseres Begleiters, der uns flüsternd auffordert, möglichst rasch weiterzufahren, weichen sie zögernd zur Seite.

Gaza selbst gleicht immer noch einer nicht sehr weit hinter der Front liegenden Etappenstadt: Stacheldrahtverhau um die militärischen Kommandogebäude, Streifen mit Stahlhelm und schußbereitem Gewehr, Panzerspähwagen an Straßenecken. Viele Häuser scheinen leer, die Fassaden tragen noch deutlich sichtbar die Spuren der Kämpfe im Juni 1967. In einer kleinen Parkanlage ein gestürztes Denkmal — ein Vierteljahrhundert militärische Verwaltung hat in der Stadt Gaza unauslöschliche Spuren hinterlassen.

Von der Tatsache, daß dort, hart am Rand der Sinaiwüste, im Jahre 1917 österreichische Gebirgsartilleri-sten den Rückzug der verbündeten türkischen Streitkräfte gedeckt hatten, weiß man im Gaza von heute nichts mehr. Auf dem kleinen Friedhof finden sich Grabsteine englischer Soldaten, die Inschriften kaum mehr lesbar, die Österreicher dagegen — zur uns vertrauten k. u. k. Uniform mit den roten Aufschlägen trugen sie den Tropenhelm — haben in der Geschichte dieses schon seit biblischer Zeit strategisch wichtigen Gebietes kaum Spuren hinterlassen. Dennoch haben sie in zwei erbitterten Abwehrschlachten im Herbst 1917 den Engländern unter Allenby den Weg nach Jerusalem zu versperren gesucht, jener Stadt, deren Könige bis 1918 auch die Habsburger gewesen, waren. Im österreichischen Hospiz in Jerusalem wird ein Gästebuch aufbewahrt, in das sich 1916/17 auch die Offiziere der an der Sinaifront kämpfenden k. u. k. Gebirgshaubitz-batterien eingetragen haben. Österreichs einstmals dominierende Rolle im Vorderen Orient, an die so vieles erinnert, auch heute noch, klang aus im Artilleriefeuer vor Gaza ...

Zurück zur Gegenwart: Wie es weitergehen soll? Wird der Gazastreifen auch nach Abschluß eines Friedensvertrages israelisches Territorium sein? Mit Billigung der Regierung in Jerusalem an den Waffenstillstandslinien von 1967 auch im Gazastreifen errichtete Wehrdörfer sollen wohl vollendete Tatsachen schaffen. Und: der Lebensstandard dieses Notstandsgebietes scheint sich zu heben, seit Zehntausende von Bewohnern von Gaza in Israel gegen beträchtlich höhere Löhne, als in den Orangenplantagen von Gaza gezahlt wurden, als „Gastarbeiter“ tätig sind. Und für Besitzer der Orangenplantagen, die früher das Gebiet wirtschaftlich beherrschten — Bürgermeister al Schawa ist einer von ihnen —, würden sich neue Absatzmärkte eröffnen.

Verteidigungsminister Moshe

Dayan will also, gewissermaßen „im Sandkasten“, den Beweis antreten, daß Israelis und Araber sehr wohl friedlich zusammenleben können. O'n Kairo den Beweis akzeptieren wird, ist allerdings eine andere Frage. Seit 1917 die Türken aus Gaza abgezogen sind, war dieses Gebiet politisches Niemandsland. Die Überraschendr; politische Entwicklung im Nahen Osten der letzten Wochen läßt eine endgültige Regelung durchaus möglich erscheinen.

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