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Das Schlafkraut kommt aus dem See

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Die Bregenzer Festspiele wenden sich an ein Publikum, das zum „Schauen gekommen ist“ und „am liebsten sehen“ möchte. Dem großen Strom der Sommerpilger zwischen Süddeutschland, Italien und der Schweiz soll eine Augenweide geboten werden. So erweist sich die Seebühne mit ihren imponierenden Möglichkeiten für farbenprächtige Umzüge, bewegte Statistenaufmärsche, Lichteffekte und Feuerwerke, trotz der ihr anhaftenden akustischen Mängel, als der eigentliche Anziehungspunkt für die nicht allzu anspruchsvollen Touristenmas-sen, während das Kornmarkttheater für intime Reize sorgt.

Auf einem Fest, das den Augen bereitet wird, ist natürlich das Ballett Herrscher und so ist auch für Bregenz die gerade beschäftigte Kompanie das eigentliche Fundament der Ereignisse. Dieses Fundament ist heuer etwas schmal geraten, denn das Ballett des Nationaltheaters Prag, das in diesem Jahr die tänzerischen Darbietungen monopolisierte, hat nur zwei Mitglieder von internationaler Qualität zu bieten: Marta Drottnerova, eine etwas kühle Ballerina, die über edle Linienführung und sichere Spitzentechnik verfügt, und Vlastimil

Harpes, einen eleganten, stark lyrisch gestimmten Kavalier dessen Ballon Bewunderung erregt. Diese beiden waren es auch, die durch mehrere reizvolle Pas de deux, die Emmerich Gabzdyl in klug ausgewogenen, akademischen Schrittfolgen choreographiert hatte, das Märchenballett „Die Fontäne von Bacht-schissaraj“, einen Tränendrücker von N. D. Wolkov nach einem Lesebuchgedicht von Puschkin mit einer banalen illustrierenden Gebrauchsmusik von Boris Assafjev, die ihre Herkunft von Rimsky-Korssakow nicht zu verleugnen vermag, überhaupt erträglich machten. Das pseudoerotische Bauchkreisen der Haremsdamen, das an Darbietungen im „Lido de Paris“ erinnerte, und die aus Raummangel in den Ansätzen verkümmernden folkloristischen Darbietungen der tatarischen Krieger gaben zu unbeabsichtigter Heiterkeit Anlaß. An diesem Avend konnte man erkennen, daß die Herren der bessere Teil der Kompanie sind, während die Damen kaum eine Bewegung mit der wünschenswerten Präzision durchzuführen vermögen.

Mangelndes Gleichmaß, Verwaschenheit des formalen Vokabulars und Unsicherheit in der adäquaten Ausführung eines vielfach verschnörkelten Schrittrepertoires kennzeichneten auch die Balletteinlagen der beiden Aufführungen auf der Seebühne, der „Feenkönigin“ von Henry Purcell und des „Bettelstudent“ von Millö'cker, die von Waclaw Orlikowsky choreographiert worden waren.

Das wichtigste Ereignis der Festspiele 1972 war ohne Zweifel „Die Feenkönigin“ von Henry Purcell, eine „Masque“, also ein Schauspiel mit Musikeinlagen, 1692 in London uraufgeführt und in jüngster Zeit durch zahllose Bearbeitungen, von denen die von Kurt Jooss den Bregenzer Festgästen serviert wird, für die Bedürfnisse der modernen Bühne und die Schaulust des Reisepublikums zurechtgemacht. Die Geschichten vom Streit des Elfenkönigspaares um den indischen Knaben und von den theaterspielenden Handwerkern hat der recht einfallslose Librettist aus Shakespeare übernommen, die reizvolle eklektische Musik verbindet unbekümmert Elemente der neapolitanischen Seria, der Musik am Hofe Ludwigs XIV. (Lully), englische Anthems und Hymnen der nachelisabethanischen Zeit mit volkstümlichen Wendungen aus Balladen und Tanzweisen. Diese delikater Wirkungen durchaus fähige Musik konnte auf der Seebühne trotz der subtilen Leitung durch Leopold Hager und des vortrefflichen Spiels der Wiener Symphoniker nicht recht zur Geltung kommen.

Auf dem durch Toni Businger mit prächtigen Barockfassaden ausgestatteten Bühnengerüst bewegt der Regisseur Kurt Pscherer zahllose Statisten in konventionellen Prozessionen. Den Rüpelszenen fehlt auf der überdimensionierten Bühne die rechte Beziehung zum gesprochenen Wort. Als Bregenzer Spezialität darf Puck das Schlafkraut für Titania aus dem See tauchen und schwimmend zu Oberon bringen.

Zu den besonderen Attraktionen des Bregenzer Sommers gehört die Aufführung einer romantischen italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts im Kornmarkttheater. In diesem Jahr wählte man „La Somnabula“ von Vincenzo Bellini, eine „österreichische“ Oper, die 1832 in Mailand zur Uraufführung gelangte und die Vorliebe der Romantik für psychologische Grenzsituationen wiederspiegelt. Die ungekünstelte, sehr einfach geführte Gesangslinie und die feine koloristische Kontrastsetzung in der Instumentation sichern dieser Oper noch heute ein begrenztes Interesse. Der ergiebige, wenn auch nicht mehr taufrische Sopran von Margherita Rinaldi, der etwas abgenützte Bel-canto-Glanz von Luigi Alva und der füllige Baß von Raffaele Arie bildeten die Säulen einer interessan ten Aufführung, die von Nino Sanzogno behutsam und manchmal ziemlich langsam zelebriert wurde.

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