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Das Sprungbrett

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Nüchterne authentische Informationen können alarmierender sein als sensationslüsterne Übertreibungen, deren es in den Massenmedien wahrhaftig nicht zu mangeln pflegt. Was also steckt an Wahrheitsgehalt hinter der dramatischen Schwarzmalerei angesichts sowjetischer Truppenansammlungen und nächtlicher waffenklirrender Bewegungen in Kädärs „westlicher Volksdemokratie’, wo das Regime und das Volk bestimmt keinen „Blitzkrieg’ gegen Jugoslawien und Rumänien wünscht?

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Nüchterne authentische Informationen können alarmierender sein als sensationslüsterne Übertreibungen, deren es in den Massenmedien wahrhaftig nicht zu mangeln pflegt. Was also steckt an Wahrheitsgehalt hinter der dramatischen Schwarzmalerei angesichts sowjetischer Truppenansammlungen und nächtlicher waffenklirrender Bewegungen in Kädärs „westlicher Volksdemokratie’, wo das Regime und das Volk bestimmt keinen „Blitzkrieg’ gegen Jugoslawien und Rumänien wünscht?

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Ungarn befindet sich in einer zentralen, gegen den Westen vorgeschobenen Lage innerhalb des sowjeteuropäischen Blocks, infolgedessen ist es ein ideales Aufmarsch- und Konzentrationsterrain, ein natürlicher „Flugzeugträger’ für die östliche Koalitionsarmee, die ihre Machtüberlegenheit sowohl gegenüber dem Balkanraum als auch gegenüber NATO-Europa betonen möchte. Da bei den Wiener Abrüstungsgesprächen die Besetzung Ungarns nach einer energischen russischen Initiative ausgeklammert wurde, kann das Warschauer Militärpakt-Oberkommando dort schalten und walten wie ihm es beliebt. Der ungarischen Regierung fällt dabei nur die Rolle eines Statisten zu.

Entlang der ungarisch-österreichischen Grenze fanden bisher keine größeren Truppenverschiebungen statt, ein 20 Kilometer tiefer Abstand wurde laut Warschauer Ordre de bataille eingehalten, übrigens auch an der ungarisch-jugoslawischen Grenze, in deren Nähe im Raum von Pėcs nämlich langsam eine neue russische Panzerdivision massiert wurde.

Im Landesinneren Ungarns wurden seit dem November 1973 mehrere kombinierte russisch-ungarische Manöver abgehalten, die nebenbei ein verwirrendes Hin- und

Herschieben beträchtlicher Truppenkontingente ermöglichten. Im übrigen: seit 1945 war es immer schon russische Taktik, Einheiten im Lande öfter verlegen zu lassen, damit der „Feind’ hinter’s Licht geführt werde und sich nicht richtig orientieren könne. Während der Übungen wirkten dann auch tschechoslowakische, polnische, ja sogar rumänische Kommandos mit, teils als lernbegierige Beobachter, teils als Repräsentanten der Blockeinheit und -Solidarität. An den Wänden der Kommandoräume prangte die Aufschrift: „Unser Hauptfeind ist die Zeit!’ Wohin eilt wohl das WP-Oberkommando so sehr?

Man übte sorgfältig die Verlegung von Kontingenten in Divisionsstärke auf große Entfernungen und die „Reinhaltung’ des Luftraumes. Mit Vorliebe wurden hiezu alte ungarische Reservisten einberufen, die vor sieben und mehr Jahren ihre Grundausbildung erhalten hatten. Sie mußten in kürzester Zeit bei ihren Einheiten eintreffen, meistens in den frühesten Morgenstunden. Das Ziel war, die Handhabung neuerer Waffen und eine modernere Kampftaktik zu erlernen. Immer mehr amphibische Fahrzeuge wurden verteilt, mit denen Flußüberquerungen geübt wurden. Grenzwache und ungarische Arbeätermiliz waren als Hilfskräfte eingesetzt. Zum erstenmal bekam die ungarische Donauflottille eine größere Aufgabe. Die Flak-Artillerie war seit 1972 mit leistungsfähigeren Geschützen versorgt worden. Immer wieder wurden fingierte Nuklear- waffen-Angriffe geprobt. Bemerkenswert sind die schweren neuen Anlegebrücken der Pioniere und die schwimmenden Fähren, die bis zu sechs schwere Panzer oder zwölf beladene Lastwagen befördern können.

Etliche Jahre lang lagen bereits zwei Panzer- und drei motorisierte Schützendivisionen der Sowjetarmee in Ungarn. Heute schätzt man ihre Zähl auf .mindestens acht. Divisionen, mit einer Luftflotte und zwei Luftlandebrigaden insgesamt wenigstens

130.0 Mann, aber es gibt Experten, die annehmen, daß neuerlich mehr als 50.000 Mann nach Ungarn verlegt worden sind. Fest steht, daß sich die zehn besten Flugplätze des Landes dauernd in sowjetischer Hand befinden und es ist infolgedessen keine phantasievolle Übertreibung, spricht man von einem „ungarischen Flugzeugträger’. Zweifellos liegt das Schwergewicht der Sowjeteinheiten im Süden Ungarns, in den Räumen von Kecskemet, Szeged, Szentes, Csongräd, Baja, Nagykanizsa und Pecs, wo vorher viele Jahre hindurch gähnende Leere geherrscht hat.

Die russischen Fallschirmjäger stationieren auf dem Zentralflughafen der ungarischen Luftwaffe bei Szolnok, wo auch die Flieger- und Fallschirmjäger-Offiziersausbildung konzentriert ist, sowie in Veszprėm. Von sowjetischen Fliegereinheiten sind auch die Flugplätze von Debrec- zin und Kecskemet besetzt, wo die zahlreichen Überschallmaschinen täglich einen so höllischen Lärm machen, daß sogar die kommunistischen Stadtverwaltungen dagegen Protest erhoben — allerdings vergeblich.

Gerüchte, wonach tschechoslowakische und ostdeutsche Formationen ständig ln Ungarn lägen, konnten nicht einwandfrei bestätigt werden, doch können die Russen Trappenverschiebungen aus der Karpatho- Ukraine in kürzester Zeit und nach Belieben durchführen. Ungarn bildet das Hauptsprungbrett in Richtung Balkan.

Ein Durchmarsch sowjetischer Verbände durch Österreich gehört in die Sphäre der Möglichkeiten, ist aber dennoch unwahrscheinlich. Die internationalen politischen Risiken wären hiebei zu hoch, die technischen Schwierigkeiten zu groß. Eine russische Invasion Jugoslawiens wäre riskant und ist daher zur Stunde noch unwahrscheinlich.

Wozu dann die mehrmalige sowjetische Truppendemonstration in Ungarn? Erstens, um Stärke in allen Richtungen zu zeigen und zweitens, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Schon allein aus dem

Grund, weil Ungarns verkehrsstrategische Bedeutung enorm ist. Die wichtigsten Eisenbahnlinien und die Hauptaufmarschstraßen nach dem nördlichen und westlichen Balkanraum führen durch dieses Land. Über Ungarn kann die UdSSR die Adriahäfen am leichtesten erreichen, was für die rote Mittelmeerflotte von eminenter Wichtigkeit wäre. Deshalb werden die strategischen Eisenbahnstrecken in Ungarn mit Hilfe von Sowjetkirediten ausgebaut, Wird das rollende Material der ungarischen Bahnen modernisiert und vergrößert. Tschechoslowakische Staatsuntemehmen, die derzeit zwischen Gyoma und Bėkėscsaba eingesetzt sind, wirken an diesem Ausbau mit. Die Elektrifizierung der Strecke Budapest—Bėkėscsaba—rumänische Grenze nähert sich der Fertigstellung. Drei große Autobahnen, alle in südlicher und südwestlicher Richtung, existieren vorerst nur ‘auf den Planungstischen, nur Teilstücke wurden bisher in Angriff genommen. Auch eine Umfahrungsstraße Budapests ist vorläufig Zukunftsmusik. Am’ frühesten wird die Autobahn Budapest — Györ — österreichische Grenze fertiggestellt sein.

Zwischen Kecskemet und Duna- földvär haben die Russen einen Raketenstützpunkt erbaut. Unweit davon, im Raum von Solt, befindet sich ihre wichtigste Nachrichten- und Beobachtungszentrale, angeblich die größte nach Kiew. Hier wird auch eine große russisch-ungarische Radiostation errichtet.

In den Wäldern der Großen Ungarischen Tiefebene befinden’ sich mehrere russische Truppenlager, vor allem in abgelegenen Gebieten bei Nagykörös, Kecskemėt und Puszta- vacs. ln Transdanubien sind Szė- kesfehėrvar, Veszprėm, Haj masker. Jutas, Värpalota und Füzfö wichtige Stützpunkte der Sowjetarmee. Die traditionellen „Sowjetwohnlager’ zu örkeny, Piliscsaba, auf der Insel Csepel und im Komplex Tököl samt Flugplatz sind ebenfalls zum Bersten voll.

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