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Das System des Verteilens von oben fördert die psychische Belastung

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Vielleicht gäbe es sie wirklich nicht, die Armut in Österreich - zumindest die „alte Armut“, die man heutzutage vorsorglich von der „neuen Armut“ zü differenzieren weiß - wenn alle Betroffenen auch in den Genuß der ihnen rechtmäßig zustehenden öffentlichen Unterstützung kämen. Aber was nützt ein ausgeklügeltes Sozialsystem, in dem mehr als ein Drittel der Armen entweder von den Möglichkeiten regelmäßiger finanzieller Zuschüsse nichts weiß oder aber zu stolz ist, Vater Staat um Hilfe zu bitten.

Wie der Präsident der österreichischen Caritas-Zentrale, Prälat Doktor Leopold Ungar, vergangene Woche bei der Regierungsenquete „Kampf gegen die Armut“ ausführte, sei eine der Hauptaufgaben der privaten karitativen Vereinigungen die Betreuung der armen Menschen. Es verlange von Armen und Bedürftigen oft viel Selbstbewußtsein und Mut, gegenüber fallweise recht autoritär agierenden Amtspersonen ihren Unterstützungsanspruch geltend zu machen. So beraten Mitglieder freier Wohlfahrtsdienste die Bedürftigen, erledigen für sie die oft unglaublich mühsamen Amtwege oder, wenn nötig, begleiten sie die Hilfesuchenden zu den staatlichen Einrichtungen. Es gelte, das Mißtrauen gegen diese Einrichtungen abzubauen und Vertrauen in sie zu wek-ken. Ebenso stellte Helga Nowotny, die Direktorin des Europäischen Zentrums für Sozialforschung - an Hand internationaler Daten fest, das Erfordernis eines Nachweises der Bedürftigkeit führe häufig zu einem Verzicht auf die Unterstützung.

Weit mehr Information durch die Medien - und zwar in Form von regelmäßigen Rubriken oder Sendungen -wie auch gesellschaftspolitische Bewußtseinsbildung im Hinblick auf Nachbarschaftshilfe und Förderungsanspruch jener Menschen, die - aus welchem Grunde immer - unter die Armutsgrenze fallen, wurde von einigen Referenten als vordringliche Voraussetzung zur Armutsbekämpfung gesehen und vehement gefordert.

Unbestreitbar ist, daß in den vergangenen Jahren viele soziale Maßnahmen vollzogen wurden, um die Armut in Österreich zu lindern. Sozialminister Gerhard Weissenberg rief sie bei der Enquete in einem Tätigkeitsbericht der Bundesregierung in Erinnerung. Die Armutsgrenzen wurden angehoben und entsprechend die Richtsätze für Ausgleichszulagen erhöht; demnach hegt heute die Armutsgrenze für eine alleinstehende Person zwischen 2205 und 2846 Schilling; der Richtsatz beträgt 3290 Schilling. Bei verheirateten Personen liegt die Armutsgenze zwischen 3752 und 4802 Schilling; der Richtsatz beträgt 4422 Schilling, wobei die Anzahl der Kinder im wesentlichen nur in der staatlichen . Kinderbeihilfe Berücksichtigung findet. Demzufolge ist gerade in der Wohlstands- und Wohl-fahrtsgesellschaft Kinderreichtum eine der Ursachen der Armut, denn der Richtsatz der Zulagen wird nicht entsprechend der Kinderzahl angehoben.

Generell blieb die Frage offen, ob in der inflationsbedingten Anhebung der Ausgleichszulagen auch der Bedürfnisveränderung in der Gesellschaft adäquat Rechnung getragen ist. Denn Armut kann nicht absolut, sondern immer nur relativ zur Umwelt verstanden werden. Eine sozial sensible Gesellschaft betrachtet die materielle Zufriedenheit ihrer Mitglieder als hohes Gut und muß daher bestrebt sein, die Kluft zwischen Wohlstand und bloßer Existenznotwendigkeit so stark wie möglich zu verringern; liegt es doch - um mit Arthur Schopenhauer zu sprechen - in der Natur des Menschen, „die Zufriedenheit eines jeden nicht auf einer absoluten Größe, sondern auf einer bloß relativen Größe, nämlich auf das Verhältnis zwischen seinen Ansprüchen und seinem Besitz“ abzustellen.

Daß der Sozialstaat noch lange nicht in der Lage ist, dieser Unzufriedenheit einigermaßen Herr zu werden, zeigte Ernst Gehmacher vom IFES-Institut in seiner Definition der „neuen Armut“, die vielleicht überhaupt erst eine Ausgeburt des materiellen Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhundert darstelle.

Die „neue Armut“ entstehe zumeist durch das Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Umstände, durch die Einzelpersonen oder ga*nze Familien in eine Lebenslage gedrängt werden, in der die adäquate Erfüllung des Bedürfnisniveaus nicht mehr möglich ist. Als derartige Umstände lassen sich physische und psychische Beeinträchtigungen anführen, unangepaßte Verhaltensweisen, Kinderreichtum, Verlust des Familienerhalters, soziale Isolation. Die Frage erhebt sich, ob nicht das System des „Verteilens von oben“ - das Nehmenmüssen an Stelle des Erwerbens durch Leistung - Faktoren wie psychische Belastung, unange-paßtes Verhalten, Isolation geradezu fördern.

Der Mensch empfindet die Zuteilung des Wohlfahrtsstaates als Almosen, er versteht sich als Bittsteller, was ihn unwiderruflich zum Außenseiter mit all seinen spezifischen Verhaltensweisen stempelt. Er ist zu stumpfer Passivität verurteilt und verliert so jedes Gefühl der Integration, des Gebrauchtwerdens. Der Staat von heute müßte daher vordringlich Überlegungen anstellen, wie Hilfe zur Selbsthilfe geboten werden kann. Sozialhelfer sollten gemeinsam mit den Bedürftigen Ideen entwickeln, wie der Lebensstandard durch aktives Verhalten gehoben werden kann - dann würden wahrscheinlich auch die staatlichen Hilfen mehr in Anspruch genommen werden. Sicherlich trifft diese Möglichkeit der Armutsbekämpfung eher Personen aus jüngeren Generationen, aber auch alte Menschen könnten sich zusammenschließen und so durch Geben und Nehmen ein Mehr erzielen.

Von der „neuen Armut“ - oder mit Prälat Ungar von der „Tragik der menschlichen Existenz“ - seien weit mehr Mitglieder der Gesellschaft betroffen als lediglich diejenigen, die finanziell unter die Armutsgrenze fallen, meinte Gehmacher. Denn die heutige Wohlstandsgesellschaft überliefert ihren Mitgliedern verstärkt materielle Wertsymbole. So ist die menschliche Psyche oft nur schwer in der Lage, auf materielle Werte zu verzichten, wohl mangels seelischer und geistiger Werte, denen heutzutage immer weniger Menschen zur Sinnerfüllung ihres Lebens nachstreben.

Die „alte Armut“ ist noch lange nicht beseitigt, wiewohl sicherlich im Zuge des Sozialstaates stark reduziert; die „neue Armut“ hingegen - hervorgerufen durch Ungerechte Arbeitsteüung oder Schwäche im Konkurrenzkampf, durch mangelnde Hilfe für kinderreiche Familien und alleinstehende Frauen - die von Armut am meisten betroffen seien - und schließlich durch mangelnde Förderung von Eigeninitiative, aber auch durch gestiegene materielle Erwartungen - ist allgegenwärtig und ergänzt den Vorwurf an den Wohlfahrtsstaat, in seiner radikalsten Form ein neues geistiges Proletariat zu zeugen, dessen Zukunftsperspektive Verlangen nach Luxus und Genuß darstelle an Stelle von Innerlichkeit und Harmonie.

In der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ wurde unter dem Titel „Die Europäer und die Armen“ auf Grund einer internationalen Untersuchung bewiesen: „Reich allein macht nicht glücklich.“ Ziel der Gesellschaft sollte es daher sein, neben umfassender Bekämpfung der materiellen Armut den Blick für immaterielle Werte und bewußte Selbsthilfe zu schärfen, um dem Menschen bei ausreichender materieller Ausstattung ein Dasein in Zufriedenheit und Ausgewogenheit zu ermöglichen. Das wäre echter Fortschritt

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