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Das System „friert ein

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Als Folge des Demokratisierungsprozesses seit über sechs Jahrzehnten fielen die gesetzlichen Schranken der Stan-desprivüegien, es entstand eine gleichberechtigte Gesellschaft mit vielen Chancen, alle Positionen zu erreichen. Zwar gibt es keine faktische Chancengleichheit, aber zumindest in den Bereichen Bildung und Beruf ist einiges erreicht worden.

Damit ist auch an die Stelle einer starren Stände-, dann Klassenordnung ein vielfältiges soziales Schichtungssystem getreten, mit hohem Anteü der Mittelschichten. Gleichzeitig wurde das gesamte Einkommens- und Konsumniveau kräftig angehoben.

Damit scheinen ein Zustand und ein Niveau erreicht zu sein, die vorläufig nicht mehr spektakulär verbessert werden können. Vom „Einfrieren“ des Systems für die Zukunft zu sprechen, wird vielleicht übertrieben sein, aber derzeit kann nur an Veränderungen in kleinen Schritten gedacht werden.

Probleme und Konflikte in Österreichs heutiger Gesellschaft haben höchst unterschiedliche Ursachen. Mit einem primitiven Zweiklassenschema ist die komplexe moderne Welt weder erklärbar, noch sind die anstehenden Aufgaben damit lösbar.

Es gibt Innovationskrisen, ausgelöst von neuen Technologien, neuen Distributionsmethoden oder von Konzentrationsprozessen. Durch Rationalisierung, Automation, Internationalisierung und Verwissenschaftlichung ergeben sich immer neue Anpassungsschwierigkeiten. Bereits sechs Prozent der Beschäftigten sind direkt dem, Jnformationsbe-reich“ zuzuzählen.

Zwischen den aus dem Wirtschaftsprozeß Ausgeschiedenen (Alte, Behinderte) und der am Wirtschaftswachstum unmittelbar teühabenden aktiven Bevölkerung ist das Nationalprodukt jeweils neu aufzuteüen. Nur eine sehr differenzierte Konflikttheorie, in Verbindung mit genauen Sozialanalysen, wird dafür brauchbare Antworten geben können.

Charakteristisch für die Gesamtgesellschaft ist der Vormarsch der Frauen zu gleichberechtigter Stellung im öffentlichen Leben. Um die Jahrhundertwende begann der Einzug in höhere Bildungseinrichtungen, vor und im Zweiten Weltkrieg die Unterwanderung bisher männlicher Berufe (Angestellte, Lehrerinnen, Handel), neuerdings die Übernahme politischer Funktionen. In allen Bereichen ist ihr Aufstieg von Hufs- zu Vollberufen erkennbar.

Obwohl die Erwerbstätigkeit der Frau im ganzen nicht wesentlich anstieg, ist doch der Zug zur Gleichberechtigung im Erwerbsleben, aber auch ein Wandel der Einstellung in der sozialen Umwelt zu beobachten. Diese Entwicklung wird weitergehen.

Mit dem Aufkommen des Ökologie-Bewußtseins war die Technik- und Wachstumseuphorie von einem gärenden Denk- und Diskussionsprozeß über „Alternativen“ abgelöst worden. Zwar blieben sozial gerade aufsteigende Gruppen weiterhin konsumhungrig, in den gebildeten Schichten und immer mehr in der Jugend wuchs jedoch seither die Skepsis.

In dieser Situation wirken einerseits die Verständnislosigkeit der Technokraten und Bürokratien bedrohlich, andererseits der

Rückfall in mythologische und U-lusionäre Vorstellungen bis zur Technikfeindlichkeit bei bestimmten sozialen Bewegungen.

Demgegenüber soll festgehalten werden, daß die menschlichen Verstandeskräfte, die bestimmte Entwicklungen hervorgebracht haben, prinzipiell auch dazu in der Lage sind, eine sinnvolle Verwendung — oder Nichtverwen-dung zu bewältigen! Allerdings wird es in Zukunft großer (und moralischer) Anstrengungen bedürfen, um optimale Lösungen in der Verwendung von sich rapide vermehrenden technischen Möglichkeiten zu erreichen.

Neben dem wirtschaftlichen und dem sozialen Wandel erfährt unsere ganze Kultur eine tiefgreifende Umprägung. Der Pluralismus in den Wertvorstellungen ohne einigendes Höchstziel bleibt ein offenes Problem. Utilitaris-mus und Leistungsdenken mögen für den wirtschaftlichen Alltag ausreichen, für den Notfall, für die Frage nach Leben und Tod, genügen sie bestimmt nicht.

Ideologien als „falsches Bewußtsein“ sind ein schwacher Ersatz für Klarheit im Gewissen über Gutes und Böses. In Österreich und anderswo bleibt die Frage nach dem höchsten Ziel auf der Tagesordnung.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Wien.

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