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DAS TALENT WIEDER AUSGRABEN

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Die letzten Monate haben die Gesamtheit des Problems schonungslos sichtbar werden lassen. Nicht nur, daß der Reichtum der Welt äußerst ungleich verteilt ist, wird im Zuwanderungsdruck aus dem Osten unseres Kontinents und aus den anderen Kontinenten spürbar. Die Reaktion West-Europas darauf zeigt, was der ärmere Großteil der Weltbevölkerung von seinen „reichen Verwandten" zu erwarten hat. Es deutet leider viel darauf hin, daß die Vorschläge und Absichtserklärungen all der Symposien und Konferenzen der letzten Jahrzehnte nur von kleinen Minderheiten getragen werden. Wenn diese selbst überhaupt ernst meinen, was sie sagen und wünschen.

Mehr als 40 Jahre ungestörten Verzehrs eines wachsenden Wohlstands haben uns gedanken- und gefühllos werden lassen. Und vor allem schmerzlich unbeweglich, sodaß selbst beabsichtigte Veränderungen im Gefüge der Welt am panischen Bestreben scheitern, die eigenen Besitzstände solang als möglich fortzuschreiben.

Gewißein wesentlicher-wenn auch nicht der ausschließliche - Grund für die Situation der Weltbevölkerung liegt im bisherigen Verhalten des reichen Fünftels. Der eigene Aufstieg, den offensichtliche Begabung und unbestreitbare Gunst der Geschichte wesentlich mitverursacht haben, ist wie das eine Talent des Gleichnisses Jesu im Schweißtuch in der Erde vergraben geblieben. Der viel auf Kapitalismus setzende industrialisierte Westen hat sein eigentliches Kapital nicht arbeiten lassen und muß nun auch um die eigene langfristige Zukunft zittern.

Und jetzt wo Spielräume und Perspektiven für eine neue, global denkende Politik und Wirtschaftsstrategie vonnöten wären, sind Politiker zunehmend gefragt, die sich als Absicherer der vorhandenen Besitzstände anpreisen. Hierin besteht das Drama - die Tragik? - der Demokratie. Sie ist eine Ethik voraussetzende, nicht aber ersetzende Struktur, die ihr Mehrheitsprinzip durchaus auch gegen die eigene Zukunft und für inhumane Ziele einzusetzen imstande ist, wenn ihr nicht von vorausschauenden Politikern andere Wege gewiesen werden.

Ein erster dieser Wege besteht schon im Aufbau eines neuen Dialogs zwischen Bevölkerung und Politik. Dabei könnte auf einer latenten Bereitschaft, im Bedarfsfall großzügig zu sein, aufgebaut werden. Die Spender der Caritas etwa haben auf den auf Osteuropa ausgedehnten Unterstützungsappell mit der Ausweitung ihrer Spenden reagiert.

Es ginge politisch darum, sich um ein klares Mandat für eine neue, global denkende Politik zu bewerben. Um den Auftrag zu einer Investition in die eigene Zukunft durch den Einbezug der Zukunft der gesamten Welt. Damit wären nicht schon morgen absolute Mehrheiten zu gewinnen. Aber die schon morgen gewinnbaren absoluten Mehrheiten lassen das Übermorgen gar nicht erst erleben.

Weiters ginge es um eine klare Entscheidung für den großzügigen Einsatz von strategischer Kreativität und Mitteln, wie er im „Kriegshandwerk" Selbstverständlichkeit ist.

Die Strategie wie auch der Einsatz der Mittel müßten auf eine Hilfe bei der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der unterentwickelten Länder abzielen. Der Westen weiß ganz genau, daß er seinen Reichtum vor allem der Verschränkung von wirt-schaftlicherund sozialer Entwicklung verdankt und keineswegs einer „Marktwirtschaft ohne Adjektive". Die Antwort auf den sogenannten „Wirtschaftsflüchtling" ist deshalb nicht nur „Wirtschaftshilfe", weil auch der „Wirtschaftsflüchtling" eigentlich kein solcher ist.

Und, um gleich beim Stichwort zu bleiben: Es sollte emsthaft geprüft werden, ob der Zuwanderung aus den verarmten Ländern und Erdteilen nicht auch positiv, das heißt mit dem Versuch begegnet werden könnte, „Rückwanderung mit Perspektive" zu fördern und Rückwanderungsprogramme mit Entwicklungshilfeprogrammen zu verbinden.

Insgesamt geht es darum, die Ma-krostrategie für globale Problemlösungen mit der Mikrostrategie der Humanität, des sorgfältigen Umganges mit dem einzelnen, dessen Schicksal, Würde und Zukunft, zu koppeln. Am Ende des zweiten Jahrtausends ist das Menschenbild der biblischen Überlieferung von ungebrochener Aktualität und Kraft für die Lösung von großen Interessenkonflikten. Die europäischen Christen müßten dieses „Talent" allerdings wieder ausgraben und zusammen mit den wachgewordenen Humanisten der verschiedenen Lager ins gesellschaftliche Spiel bringen.

Der Autor ist Präsident der Caritas Österreich.

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