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Das Timing gegen das Leben

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Ehe die Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland noch recht Zeit hatten, sich über Willy Brandts lobende Ausführungen zur Partnerschaft von Staat und Kirche zu freuen, sehen sie sich in einen harten Streit auf politischer Bühne verwickelt. Die Bundestagsfraktionen von SPD und FDP haben sich für die Fristenlösung, die eine Straffreiheit der Abtreibung während der ersten drei Monate der Schwangerschaft vorsieht, entschieden. Ein entsprechender gemeinsamer Initiativantrag der beiden Fraktionen soll demnächst im Bundestag eingebracht werden. Von der FDP war diese Entscheidung erwartet worden, doch überraschte es nun, daß sich auch in der SPD die Anhänger der Fristenlösung so schnell durchsetzen konnten und zum jetzigen Zeitpunkt in einem perfekten Timing von den Koalitionsfraktjonen die Weichen in der Reform des Abtreibungsparagraphen gestellt wurden.

In Anbetracht der geschickten Zeitwahl — nicht zu kurz und nicht zu lang vor dem Parteitag der SPD in Hannover, so daß der Entwurf nicht zerredet werden kann, aber wohl ausreichend bekannt ist — haben die Gegner der Fristenlösung außerhalb der Fraktionen, vor allem die Kirchen, schnell und vor allem auf katholischer Seite massiv reagiert.

Sowohl die katholischen Bischöfe protestieren äußerst scharf wie auch die katholische Laienvertretung, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Das Zentralkomitee erklärte sogleich, ein Staat, der dem ungeborenen Leben den „umfassenden Schutz des Rechts“ versage, stelle das Leben überhaupt in Frage. Der Kölner Kardinal Jaeger stellte fest, daß „ein ganz entscheidender Einbruch in die Rechtsordnung und das Rechtsbewußtsein unseres Volkes“ erfolge, wenn die Fristenlösung im Strafrecht verankert werde. Auf evangelischer Seite äußerten sich sowohl der überregionale Rat der evangelischen Kirche in Deutschland wie auch Vertreter der Landeskirchen ablehnend zu dem Vorhaben der Koalitionsfraktionen. Allerdings gab der EKD-Vertreter in Bonn, Bischof Kunst, eine Stellungnahme ab, die auf die Motive der Fristen-lösungsbefürworter einging. Die vom Rat der EKD angekündigte endgültige Stellungnahme, die nach Einbringung eines Entwurfes für ein Indikationenmodell im Bundestag erwartet wird, dürfte wohl ebenfalls die Ablehnung der Fristenlösung enthalten, allerdings weniger vehement gegen ihre Verankerung im Strafrecht opponieren. Ferner dürfte sie einen Aufruf an die evangelischen Christen enthalten, im Falle der Freigabe der Abtreibung bis zum dritten Monat von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen. Auch die größte Vereinigung praktizierender Ärzte in der Bundesrepublik, der Hartmannbund, hat entschieden gegen die Fristenlösung Stellung genommen.

Es ist kennzeichnend für die politische Situation um die Abtreibungsfrage in der Bundesrepublik, daß die eigentlichen politischen Stellungnahmen zu der Aktion von SPD und FDP nicht von dieser Klarheit und Eindeutigkeit sind. Zwar machte auch Oppositionsführer Barzel aus seiner ablehnenden Haltung kein Hehl. Er kündigte an, daß die Unionsparteien prüfen würden, ob der Entzug des staatlichen Schutzes für das ungeborene Leben nicht gegen die Verfassung verstoße. Außer-

Bundesdeutscher Justizminister Jahn: Noch vieles offen dem wird von der Opposition im Bundestag ein sogenannter Gruppenvertrag eingebracht werden, der ein Indikationismodell vorsieht, also nur bei Vorliegen von Gefahren für Mutter oder Kind die Abtreibung gestattet. Begründet wurde die Form des Gruppenantrags, die den Verzicht auf einen Antrag der gesamten Fraktion bedeutet, mit dem Hinweis auf die Gewissensfreiheit der Abgeordneten.

Es ist allerdings bekannt, daß auch in CDU und CSU einige Befürworter des Fristenimodells zu finden sind und daß innerhalb der Opposition keine einheitliche Haltung in der Abtreibungsfrage zustandekommt. Dieser von den Regierungsparteien nicht ohne Schadenfreude kommentierte Umstand trifft in geringerem Maße auch die SPD. Zwar konnten sich in ihr die Befürworter der Fristenlösung so weit durchsetzen, daß es zu einem Antrag der Fraktion kommt, daß aber eine vielleicht bei der parlamentarischen Abstimmung ausschlaggebende Gruppe dennoch entschieden das Indikationsmodell unterstützt. Ihr prominentester Vertreter ist Jus'tizmindster Gerhard Jahn selbst. Er hat noch in der letzten Legislaturperiode, nach anfänglichen Tendenzen zum Fristenmodell, nicht zuletzt nach intensiven Kontakten mit den Kirchen, einen Gesetzesentwurf auf Grund des Indikationenmodells vorbereitet. Er sah zwar auch die reichlich unbestimmte Indikation der „allgemeinen Notlage“ der werdenden Mutter vor, wollte jedoch die Entscheidung über die Abtreibung nicht der Frau allein überlassen.

Jahn, der vor allem wegen dieses nicht mit den Vorstellungen der Mehrheit seiner SPD-Fraktion übereinstimmenden Entwurfes Kritik aus dem eigenen Lager einstecken mußte und deshalb sogar nicht wieder ins Kabinett berufen werden sollte, steht auch heute noch zu seinem Entwurf. Sein Argument gegen die Fristenlösung: Früher sei einseitig das ungeborene Leben berücksichtigt worden; bei der Fristenlösung werde aber allein das Jnteresse der Frau gesehen. Die Abwägung dieser beiden Rechtsgüter sei zu kompliziert, als daß sie so generell wie im Fristenmodell entschieden werden könne.

Jahn ist in seiner Partei nicht der einzige, der so denkt, Die Schätzungen über die Zahl der Anhänger seines Modells in der SPD-Fraktion reichen bis etwa 40. Ihrer 26 würden aber bei einer geschlossenen Anti-haltung von CDU/CSU ausreichen, um den Fristenlösungsentwurf im Parlament scheitern zu lassen. Selbst wenn einige Unionsabgeordnete für das Modell der Regierungsparteien stimmten, wäre die Mehrheit für den SPD/FDP-Entwurf noch nicht gesichert. Sollten die von der Union regierten Bundesländer bei einer Annahme des Fristenlösungsentwurfes durch den Bundestag im Bundesrat dagegen Einspruch erheben, und daran ist bei der jetzigen Handhabung der Mehrheit im Bundesrat durch die Unionsparteien sowie bei ihrer Haltung zur Fristenlösung kaum zu zweifeln, müssen die Befürworter der Fristenlösung sogar die absolute Mehrheit im Bundestag auf die Beine bringen. Für diesen kritischen Fall wird jedoch damit gerechnet, daß sich ein Teil der SPD-Indikationen-Befürworter !— in der FDP sind sie ohnedies minimal — der Stimme enthalten würde.

Angesichts dieser komplizierten und unentschiedenen Situation in der parlamentarischen Behandlung der FDP-SDP-Abtreibungsinitiative, scheint in dieser Frage trotz der gegemeinsamen Gesetzesvorlage der Regierungsfraktionen noch vieles offen zu sein.

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