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Das Unabänderliche ist zur Staatsraison geworden

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Es war und ist, wie immer auch, Geschichte, Schicksal, Menschenlos, verlorene, aber nicht vergessene Tragödie. Es war ein hoffnungsvolles, grauenhaftes, schreckliches Erleben. „Der Freiheit letzte Stunden“ hatte ich als Überschrift; gemeldet, in die Welt gefunkt. Es war ein Abgesang gewesen, 1956. Zwei Tage später hatte ich mich selbst gelesen, schon in Wien: wie ich als letzter Journalist dem Einmarsch der Sowjets in Budapest entgangen war, der Feuerwalze, die die Freiheit niederbrannte. Was ich geschrieben hatte, war mir zwar ein wenig ungelenk erschienen, zu blaß, zu vordergründig und zu wenig ausgeformt. Doch hatte es vielleicht die Scheu in sich, die Unbeholfenheit, scheinbar Unfaßliches, Erschütterndes zu loten und zu schildern. Geblieben war fürs erste nur das Äußere.

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Es war und ist, wie immer auch, Geschichte, Schicksal, Menschenlos, verlorene, aber nicht vergessene Tragödie. Es war ein hoffnungsvolles, grauenhaftes, schreckliches Erleben. „Der Freiheit letzte Stunden“ hatte ich als Überschrift; gemeldet, in die Welt gefunkt. Es war ein Abgesang gewesen, 1956. Zwei Tage später hatte ich mich selbst gelesen, schon in Wien: wie ich als letzter Journalist dem Einmarsch der Sowjets in Budapest entgangen war, der Feuerwalze, die die Freiheit niederbrannte. Was ich geschrieben hatte, war mir zwar ein wenig ungelenk erschienen, zu blaß, zu vordergründig und zu wenig ausgeformt. Doch hatte es vielleicht die Scheu in sich, die Unbeholfenheit, scheinbar Unfaßliches, Erschütterndes zu loten und zu schildern. Geblieben war fürs erste nur das Äußere.

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Der 3. November“, so stand da, „ein düsterer Tag, dämmert auf wie die Tage vorher. In Budapest hat sich die Spannung, ein undefinierbares Fühlungsgemisch aus verdrängter, geleugneter Angst und noch immer lebendigem Opfermut, in Beklemmung verwandelt, in stilles, verhaltenes Zittern. Die Menschen, merkt man, zweifeln wieder, horchen, schweigen. Und wenn sie sprechen, fragen sie: ,Was wird? Was wird aus uns?'

Es ist jetzt 14 Uhr. Nichts läßt vermuten, daß schon Stunden später tatsächlich Grauen und Verderben kommen, daß wieder die Sowjets das Zepter schwingen und neue Sicherheitsbeamte Rache nehmen werden. Von einem Kädär weiß man nichts. Nichts deutet darauf hin, daß Heldenmut und Opfergang umsonst gewesen sind, daß Ungarn — auch vom Westen — aufgegeben werdeh wird. Im Gegenteil. Man richtet die zerschossenen Straßen und Gebäude wieder her. Man macht sich selber Mut. • '' ■

Zwar gibt es keine Journalisten aus dem Westen mehr. Sie sind schon gestern abgefahren, Richtung Wien, fluchtartig, überstürzt. Die Grenze ist, so hört man, wieder zugemacht. Vor Magyarovar haben die Sowjets zwei Dutzend Auslandsjournalisten festgenommen. Auch Hegyeshalom ist vermauert und ödenbutg. Sogar nach Jugoslawien sind die Übergänge abgeriegelt worden. Auf allen Straßen, heißt es, ständen Panzer, Panzer der Sowjets.

Ich fahre noch ins Parlament, zu Nagy, zu Tildy und Maleter. Doch niemand hat mehr Zeit. Im Kardinalspalais in Buda treffe ich auf Mindszenty. Der Kirchenfürst, gebückt, mit stillem Feuer in den Augen, doch abgespannt und fieberhaft zugleich, trägt mir in zwei Minuten Grüße auf, an Österreich, an Deutschland und die freie Welt. Er ahnt, was andere offenbar nicht sehen wollen.

Es ist jetzt 15 Uhr. Drei Freunde, gleichsam Schlachtenbummler, finden sich zu mir. Und glauben, daß sie als Touristen' bessere Chancen hätten, sich nach Österreich zu schlagen, als ein Zeitungsmann. Wir machen unseren Wagen fertig. Ich reiche Zitronen, die letzten, und Naschwerk hinaus. .Helft uns! Vergeßt uns nicht!' Das ist der Abschiedsgruß der Budapester. Wir fahren über Ring und Margaretenbrücke und biegen dann nach Westen ab.

Der Panzerring um Budapest — die erste Überraschung — ist kein Hindernis. Sogar bis Györ geht alles gut. Vor Györ jedoch — inzwischen bricht der Abend ein — versperren plötzlich Panzer unseren Weg, sowjetische Kolosse. Wir weichen aus und pirschen uns, von Kundigen geleitet, an die Raab heran, zu einer kleinen holzgemachten Brücke. Sie ist noch nicht bewacht. Nach 70 Kilometern müßten wir in ödenburg, in Sopron sein, und nicht mehr allzu weit von Österreich.

Die Nacht ist angebrochen, und gerade deshalb geht vielleicht auch alles gut. Kurz hinter Sopron aber blendet uns ein starkes Licht Ein Panzer türmt sich an der Straße auf. ,Stoj!' ruft es uns entgegen. Sowjets umringen uns. Woher wir kämen, etwa gar aus Budapest? — Nein, nur aus Sopron, nur Touristen. — Ob wir denn Österreicher seien? — Ja. Ob sie die Pässe sehen wollten (wenn wir jetzt unsere Pässe zeigen müßten, wäre es passiert; zwei von uns sind Deutsche, ich selbst bin Journalist). Doch unsere Motorhaube ziert die rot-weiß-rote Fahne; wir haben vorgesorgt

Das Unerwartete geschieht (von Magyarovar weiß man offenbar noch nichts). ,Gutt', sagt ein Offizier. Wisteigen ein, gemessen, ohne Hast und sagen ,Servus', unbeteiligt, lässig, jede Emotion verleugnend. Dann treten wir aufs Gas. Und bald kommt Österreich. Wir haben es geschafft. — Sechs Stunden später ging die Hölle los. Die Muschiks, auch in Sopron, hatten das natürlich schon gewußt. Was hatte es gezählt, daß vier .Touristen' noch den Weg nach Österreich genommen hatten?

Doch hinter uns, in dieser Nacht,brach Stunden später ein alleingelassenes Volk zusammen; die Ungarn starben ihren stillen, sinnentleerten Tod. .Helft uns! Vergeßt uns nicht!'; das alles war auf einmal Blasphemie...“

Und ist inzwischen, wie gesagt, Geschichte, welkende Erinnerung, ein gilbendes Karteiblatt im Archiv verlorenen Lebens. Doch Politik entbehrt der Logik und Gesetzlichkeit. Sie ist auch keine angewandte Wissenschaft, und nichts scheint müßiger, als der Versuch, sie mit Kriterien der Moral zu messen, der Gerechtigkeit. — Die 20 Jahre, die seither vergangen sind, verstehen sich als Jahre der gezügelten Vernunft Und zwar auf beiden Seiten: sowohl bei der Bevölkerung wie bei Regierung und Partei. Die Kommunisten unter Kädär haben es vermieden — sie tun es heute noch —, Macht als Gewalt zu praktizieren. 10,4 Millionen Ungarn haben sich der Einsicht zugewandt, daß selbst das beste Staatssystem, wo immer auch, nur eine Art Verschwörung gegen die Nation sein kann. Man lebt nicht füreinander, sondern miteinander — auf Distanz. Das Unabänderliche ist zur Staatsraison geworden.

Tatsächlich — das ist kein Geheimnis mehr — hat Ungarn innerhalb der Ostblockstaaten das größte Maß an Liberalität. Es ist zwar in der Außenpolitik und militärisch, wie die anderen auch, in Moskaus Direktiven und Doktrinen eingebunden, im Inneren jedoch und in der Wirtschaftspolitik hat es mehr Eigenmächtigkeit als alle anderen Satelliten. Das spiegelt sich am deutlichsten im Außenhandel und Tourismus auch dem Westen gegenüber; Technologie und Toleranz sind nicht nur propagandaträchtige Vokabeln. Die Industrie weist sich in Planung und Struktur, in Leistungsnorm und Qualitätsniveau als ein solider Wirtschaftsfaktor aus, sie spricht erstaunlich rasch auch auf Strukturveränderungen an. Im Gegensatz zu allen anderen Ostblockstaaten zeigt sich sogar die Landwirtschaft problemfrei, ausgewogen und stabil.

Versorgungsschwierigkeiten und dazugehörige Proteste, wie in der UdSSR, in Polen, in der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien, hat es nie gegeben, obwohl hier Konsumentenanspruch und -befrie-digung auf höherer Ebene eingependelt sind als anderswo; Bestandteil jener „Kleinen Freiheit“, die sich die Ungarn durch die Volkserhebung 1956 ebenso gesichert haben, wie die Bewegungsmöglichkeit für Reisen in den Westen. Doch diese „Kleine Freiheit“, die die Menschen haben, erklärt auch nicht zuletzt die größere Freiheit des Regimes; Moskau hat Kadar lockere Zügel lassen müssen, und Kädär hat sich dieser „langen Leine“ mit soviel Klugheit und Geschick bedient, daß er in Ungarn zwar nicht Popularität, doch ein Vertrauenskapital besitzt, um das ihn andere Ostblockführer zu beneiden hätten. Die meisten Ungarn bangen um den Tag, da Kädär geht.

Nicht nur, weil er sein Land in einen leistungsfähigen, seriösen und „beliebten“ Staat verwandelt hat, trotz 1956 (das will schon etwas heißen); auch weil er der Garant für jene „Kleine Freiheit“ ist, die selbst den Kommunismus menschlich macht Was Dub&ek nicht gelungen ist — und nie gelingen konnte —, hat Kädär, auf das Maß des Möglichen verkleinert, längst schon etabliert. Nur will man das nicht recht zur Kenntnis nehmen. Denn nicht nur Politik schlechthin, vor allem Kommunismus — mögen sie's auch Sozialismus nennen —, ist, wie es scheint, die Kunst des Möglichen. Kädär ist, so gesehen, nicht nur Künstler, sondern Star. Die Ungarn wissen es zu schätzen.

Daß er nicht mehr vermag, als ihm die Bündnistreue und sein eigenes Gewissen zugestehen — er ist ja schließlich Kommunist und hat als solcher auch sein Schicksal hinter sich —, hält nüchterner Betrachtung stand; er ist kein Tito und kein Ceausescu. Vergleiche sträuben sich, auch hier. Die Außenpolitik liegt also ohne eigene Nuancierung und ohne Souveränitätsanspruch im Nahbereich der Kreml-Intentionen. Genauso wie die militärische Verpflichtung: auch Kädär hatte sich der Invasion der Tschechoslowakei 1968 angeschlossen. Das ist gewiß kein Ruhmesblatt, doch war es der Bevölkerung in Ungarn offensichtlich zuzumuten. Sie hatte sich nicht aufgeregt, die „Kleine Freiheit“ war ihr wichtiger gewesen als das Staatsprestige.

Ungarn nach 20 Jahren also: ein Land, das sich — dank 1956 und dank Kädär — als ein Staat erweist, der nicht nur Anspruch auf Prestige erheben, sondern auch beweisen kann, daß er im Inneren mit Maß und Ziel zwar nicht das „Glück der Erde“ oder demokratische Gesetze und Gebräuche aufgesattelt, aber doch erreicht zu haben scheint, daß Kommunismus praktikabel ist, wenn er nur eine Spur von Menschlichkeit besitzt. Die Souveränität nach außen allerdings ist abgedeckt vom Anspruch der Sowjetunion, und selbst die militärische Verfügbarkeit liegt nicht in Händen Budapests. Vier Divisionen der Sowjetarmee mit über tausend Panzern und mit anderem Gerät sind nach wie vor präsent, obwohl doch Ungarn aus den Truppenreduktionsgesprächen ausgeklammert ist.

Hier, scheint es, hat sich seit der Volkserhebung nichts geändert Der Schatten Moskaus liegt als Warnung über Land und Volk. Doch Politik reicht, wie gesagt, in Dimensionen, die sich Kriterien der Humanitas entziehen. Und Kommunismus, auch in Ungarn, ist und bleibt die Kunst des Möglichen. Sie wäre ohne Kädär nicht einmal zum Teilerfolg geworden. Trotz oder gerade wegen 1956.

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