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Das unbelehrbare Herz

19451960198020002020

Diese Wiener Retrospektive gilt dem Leben und Wirken des bedeutenden Theatermannes und Schriftstellers. In seinen fünf letzten Lebensjahren, 1949 bis 1953, entstanden jene dreizehn Meisterinszenierungen am Burgtheater (im Ronacher) und im Akademietheater, die nicht nur zu unvergessenen Höhepunkten seiner Regietätigkeit, sondern des Wiener Nachkriegstheaters überhaupt führten.

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Diese Wiener Retrospektive gilt dem Leben und Wirken des bedeutenden Theatermannes und Schriftstellers. In seinen fünf letzten Lebensjahren, 1949 bis 1953, entstanden jene dreizehn Meisterinszenierungen am Burgtheater (im Ronacher) und im Akademietheater, die nicht nur zu unvergessenen Höhepunkten seiner Regietätigkeit, sondern des Wiener Nachkriegstheaters überhaupt führten.

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„Ich war mehrmals betroffen’*, schrieb Heinrich Mann im amerikanischen Exil in einem Geburtstagsartikel, „als Viertel sich einen Mann des Theaters nannte. Wahr bleibt, daß einer, der beim Theater war, die Prägung behält, sofern er dafür gemacht war. Der vertriebene Mann des Theaters entbehrt es nur, den Abschied nimmt er nie.’ — Den Abschied nahm er nie, der Ruhelose, Unermüdliche, vom Theater Besessene — zeit seines Lebens nie.

Berthold Viertel wurde am 28. Juni 1885 in Wien geboren. Die Eltern stammten aus Galizien. Er war ein zärtlicher, kränklicher Knabe, der gern in eine Landschaft der Phantasie flüchtete. „Da war ein Bild an der Wand des Kinderzimmers, ein Barockschloß etwa im Stile Watteaus’, heißt es in den autobiographischen Fragmenten. „Dorthin floh der Knabe, dort konnte er sich geborgen fühlen…Er erfand auch Gefahren, vor denen er sich dorthin rettete. Er spielte sich im Innern seines Schlosses viele Szenen vor, deren Held er war.’ Vielleicht lag hier der Grund, daß er später zum Theater ging.

Der Vierzehnjährige verfaßte die ersten Gedichte. Er lernte Peter Altenberg und Karl Kraus kennen, Altenberg gewährte dem Vierzehnjährigen eine Audienz im Cafė Central, und der Herausgeber der „Fackel’ beantwortete im Briefkasten der Zeitschrift nicht nur einen Brief des Jünglings, sondern hielt ihn sogar des Zitierens für würdig. Viertel war ein schwärmerischer, exaltierter Jüngling, dem die Welt, wie sie sich ihm damals darbot, ungeordnet chaotisch, bizarr vorkam. Der Quartaner schrieb ein Gedicht Den fünfzehnjährigen Selbstmödern. Ein späteres Gedicht gibt auch die Stimmung dieser Jugendjahre ergreifend wieder. Es heißt Einsam, wurde oft zitiert und war mit seinem Titel wie mit seiner Eindringlichkeit für das ganze Schaffen Viertels wegweisend. Die erste und die letzte Strophe des Gedichtes lauten:

..Wenn der Tag zu Ende gebrannt ist,

Ist es schwer, nach Hause zu gehn, Wo viermal die starre Wand ist Und die leeren Stühle stehn.

— Wer hat den Mut, ohne Rausch,

ohne Blende

Durch die leeren Pausen zu gehn

— Und einsam der Tageswende

In die erlöschenden Augen zu sehn.’

Der 17jährige lief eines nachts von Haus und Schule und machte sich heimlich auf den Weg in die vermeintliche Freiheit. 1903 legte er in Zürich die Matura ab, von 1904 bis 1910 studierte er an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, ohne die vorgesehene Dissertation abzuschließen. Er beschäftigte sich mit der zeitgenössischen Literatur. Seine literarischen Arbeiten standen unter dem Einfluß von Karl Kraus, in dessen „Fackel’ Viertels erste Gedichte und Kritiken erschienen. Über Kraus und dessen Ein-Mann-Revo- lution gegen die Zeit und ihre Autoritäten schrieb er als 22jähriger einen von gehaltvollen Formulierungen im kühnsten Jugendstil funkelnden Essay. Er erschien 1924 in Buchform unter dem Titel „Karl Kraus

— Ein Charakter und die Zeit’.

Alfred Polgar charakterisierte den ihm befreundeten Viertel und dessen literarisches Schaffen: „Er schrieb viel in den Jahren, bevor ihn das Theater okkupierte, alles verführerisch begabt und geprägt mit den Zeichen: Phantasie, Leidenschaft, Charakter.’ Gedicht und kleinere Prosa erschienen außer in der „Fackel’ auch in zahlreichen anderen in- und ausländischen Zeit schriften. Besonders wichtig für Viertels Entscheidung zum Theater wurde seine Mitarbeit an der Zeitschrift „Der Merker’, im Untertitel „österreichische Zeitschrift für Musik und Theater’. In ihren Anfängen war sie das Organ der von Stefan Großmann und Arthur Rundt gegründeten Wiener Volksbühne, deren Dramaturg Viertel 1911 wurde. 1913 führte er auch Regie. Im gleichen Jahr erschien sein erster Lyrikband Die Spur in der legendären Reihe „Der jüngste Tag’ bei Kurt Wolff in Leipzig.

Der Weltkrieg unterbrach die Theaterarbeit. Nach dem Kriege wurde Viertel Feuilletonredakteur und Theaterkritiker am „Prager Tagblatt’*. Im April 1918 heiratete er zum zweitenmal: Mea Salka Steuermann war Schauspielerin. Als Salka Viertel hat sie nach Jahrzehnten gemeinsamen Lebens Memoiren unter dem Titel „Das unbelehrbare Herz. Ein Leben in der Welt des Theaters, der Literatur und des Films’ veröffentlicht. Saikas Schwester, ebenfalls Schauspielerin, wurde später die Frau des Regisseurs und Burgtheaterdirektors Josef Gielen, der Bruder Edward Steuermann war Schönbergschüler und ein international anerkannter Pianist. Viertels Beiträge im „Prager Tagblatt’ galten vornehmlich dem Prager Deutschen Theater. Er fand bald Eingang in die Prager Kunstkreise, wo er .pnteę anderen mit Brod, Kafka, Urzidil und Anton von Webern, dem damaligen zweiten

Dirigenten an der Prager Deutschen Oper, verkehrte

Im Herbst 1918 wurde Viertel auf drei Jahre als Regisseur an das Sächsische Staatstheater nach Dresden verpflichtet. Seine Vorliebe galt dem zeitgenössischen Theater, und sein Ruf als Regisseur drang bald weit über Dresden hinaus. 1922 holte ihn Max Reinhardt an sein Deutsches Theater nach Berlin. Viertels Theaterarbeit galt nicht ausschließlich dem expressionistischen Drama. Immer wieder kehrte er zu Shakespeare zurück, mit dem er sich ein Leben lang auseinandergesetzt hat. 1923 gründete Viertel sein eigenes Theater „Die Truppe’ als „Protesttheater des Ensembles, des Spielplanes, der Disziplin’ gegen die Vul- garität und den Zwang des kommerziellen Berliner Theaters. „Die Truppe’ brachte es auf acht Inzenie- rungen. Innere und äußere Schwierigkeiten, bedingt nicht zuletzt durch die grassierende Inflation, erzwangen schließlich die Auflösung des Theaters.

1926/27 war Viertel am Düsseldorfer Schauspielhaus tätig, deren Leiter — das Ehepaar Louise Dumont und Gustav Lindemann — eine Art Bayreuth des Schauspiels zu schaffen versucht hatten. Am Ende aber mußten sie einsehen, daß sich ihre mehr feierliche, überästhetische und irgendwie auch puritanische Art mit der leidenschaftlichen Natur Viertels nicht vereinen ließ. Er ging wieder nach Berlin, wo er noch einigemal inszenierte und von wo aus er einer Einladung nach Hollywood folgte. Er war erst als Drehbuchautor und Filmregisseur bei der FOX und nach deren Zusammenbruch bei der PARAMOUNT tätig. Drei Jahre lang hielt er es aus, ehe ihn der übliche „Hollywood-Koller’ packte und er Mitte 1932 nach Europa zurückfuhr. Über Paris kam er nach Wien an das Sterbebett seines Vaters.

Anfang 1933 in Berlin, ließ ihn das Fanal des Terrors, der Reichstagsbrand Ende Februar 1933, über Prag, Wien und Paris nach London fliehen; von dort kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück, obwohl ihn die Filmarbeit alles andere als befriedigt hatte. — Aber Europa ließ ihn nicht los. Im Oktober 1933 war Viertel wieder in London, wo er den Roman „Little Friend’ von Ernst Lothar verfilmen sollte. Die Handlung spielte 1933/34 vor dem Hintergrund der schweren politischen Auseinandersetzungen in Österreich. Zwei Jahre später, im Juni 1936, starb Karl Kraus, der auf Dollfuß zur Verhinderung eines nationalsozialistischen Österreichs gehofft hatte. In Deutschland der dreißiger Jahre galt Viertel als „Staatsfeind’. Sein Schwager Josef Gielen, der einen Jahresvertrag mit der Berliner Oper hatte, wurde fristlos entlassen, weil er sich in der Schweiz mit dem „Staatsfeind’ getrpffen hatte. Das Burgtheater trug Gielen sofort einen Vertrag an.

Acht Jahre, von 1939 bis 1947, verbrachte Viertel in Amerika. Ende 1941 — als Amerika in den Krieg eingetreten war — erschien in New York Viertels Gedichtband Fürchte dich nicht, Anfang 1944 der vierte Band seiner gesammelten Gedichte Der Lebenslauf. „Der Lebenslauf könnten sie eigentlich alle heißen’, schrieb Viertel. „Meine Gedichte werden ihm auf den Fersen folgen, dem Lebenslauf bis zu seinem Ende.’ Über die Bedeutung der Lyrik in seinem Leben schrieb er: „Ich habe immer dieser Selbstbehauptung gegen die dramatische Entladung, die das Theater ist, bedurft.’ Nach Kriegsende richtete sich die Aufmerksamkeit sofort auf eine Rückkehr nach Europa. Bereits im Juli 1945 diskutierte Brecht mit Viertel Pläne für die Salzburger Festspiele. Anfang Oktober kam Viertel nach England. Für die schweren Jahre im Exil wurde er durch die herzliche Aufnahme in London, wo er ein halbes Jahr bei der British Broadcasting tätig war, und darauf durch eine Reihe großer Theatererfolge in der Schweiz und in Deutschland entschädigt. Zürich gab ihm den ersten Regieauftrag, eine Flut von Anträgen erreichte ihn — Viertel entschied sich jedoch für Wien.

Der Heimgekehrte fand unter der Direktion seines Freundes und Schwagers Josef Gielen am Burgtheater noch einmal späte Erfüllung als Regisseur in künstlerischer Gemeinschaft mit einer ganzen Reihe hervorragender Schauspieler und Bühnenbildner. Von den 13 Wiener Inszenierungen, in denen sich Dichter, Regisseur und Schauspieler zu einem Dreiklang zusammenfanden, wie man ihn in solcher Vollendung auf der Bühne nur selten erlebt, seien Williams’ „Glasmenagerie’ und „Endstation Sehnsucht’, Strindbergs „Kronibraut’, Shakespeares „Othello’, Tschechows „Möwe’, Hauptmanns „Ratten’ und Shakespeares „Antonius und Cleopatra’ genannt. Man begreift die Begeisterung nicht nur des Publikums, sondern auch der Kritik, wenn einer damals emphatisch schrieb: „Das Burgtheater ersteht in seiner historischen Genialität, wird schöpferisch in dieser Aufführung.’

Als Regisseur arbeitete Viertel wie ein Plastiker, indem er jede Figur von allen Seiten betrachtete, um ihre Widersprüche zu entdecken. Er wollte keine „runden’ Figuren, sondern komplizierte, widersprüchliche Charaktere. Erst über die Wahrheit einer Figur kam er zur szenischen Form. „Das Natürliche erhöhen und das Geistige veranschaulichen’, war sein Grundsatz. Er war der beste Freund des Schauspielers, und so wurde dieser der seine. Was er wollte, war, ihn dazu zu bringen, mit einem Zuviel an Einfällen auf die Probe zu kommen, so daß man nur hinwegzunehmen und zu ordnen brauchte. Am Vorabend zur Premiere von Tschechows „Möwe’ im Mai

1952 schrieb er an Käthe Gold einen Brief, der seine Einstellung zum Schauspieler und den künstlerischen Ernst, mit dem er auf den Darsteller hin inszenierte, besonders aufschlußreich charakterisierte:

„… Ich will Dir zu Deiner Möwe sagen, daß ich mehr als durch alles beglückt bin über die Momente eigenen Schaffens, Deiner selbständigen Phantasie, die sich nun mit meiner Arbeit untrennbar verbunden hat. Du hast, noch bevor wir begannen, eine große Vision von dieser Figur und ihrem Drama gehabt, und es war von Anfang an meine Sorge, nur ja nichts davon verlorengehen zu lassen. — Wenn Du zu Ende gespielt hast und der große letzte Akt — eine wirklich gewaltige Szene! — vorüber ist, zu Ende gelitten und das Schicksal erfüllt, dann ist Dein Gesicht, Dein menschliches Gesicht, das sich in das Gesicht Deiner Figur verwandelt hatte, ganz auseinandergefallen wie bei einem Porträt von Picasso. — Ich sehe das immer mit tiefer Erschütterung. — Wie könnte ich Dir danken für das, was Du schaffst, worum Du die Welt bereicherst! Das kann kein Einzelner, das ist für viele Herzen geschaffen, sollte ein großes Geschenk für alle sein, wenn man es ihnen zugänglich machen könnte.’

Im Frühjahr 1953 war Viertel sehr krank. „Mit letzter Kraft, vom Schaffen hingenommen und aufrechterhalten’, arbeitete er während der Proben des „Antonius und Cleopatra’, obgleich er „nicht mehr schlafen, essen und kaum mehr atmen konnte’. Am 24. September

1953 ist Berthold Viertel, 68jährig, gestorben.

Vom Reichtum dieses bis zum Ende stürmischen Lebens zeugt das Werk, das 91 Theaterinszenierungen in den Jahren 1913 bis 1953, 15 Film-

Inszenierungen und Drehbücher, 10 Buchveröffentlichungen, davon fünf Gedichtbände, und eine Fülle anderer Werke und Arbeiten umfaßt. Berthold Viertel war „ein leidenschaftlicher Charakter’, hat Alfred Polgar von ihm gesagt, „und leidenschaftlich ein Charakter’.

„Den Besten seiner Zeit genug getan zu haben

Erst dann zu enden: war der Wunsch des Knaben.

Den Schlimmsten seiner Zeit kein Jota vorenthalten

An Zorn und Widerstand: das ist der Wunsch des Alten’,

so umschrieb Viertel in epigrammatischer Kürze seinen Lebenslauf. Er war in der literarischen Epoche der Einzelgänger von damals, der Kraus, Altenberg, Trakl und der anderen, ein Einzelläufer gewesen, der die Flamme der Begeisterung weitergeben mußte im Gedicht, im Wort des Schauspielers, weitergeben aus einem trotz vielen Enttäuschungen unzerstörbaren Glauben an den Menschen.

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