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Das verlorene Paradies von 1989

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Am 5. und 6. Juni finden in der CSFR die zweiten freien Parlamentswahlen seit der Novemberrevolution 1989 statt. Die gesellschaftliche Situation - vornehmlich in der Tschechei - analysiert unser Mitarbeiter in Prag.

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Am 5. und 6. Juni finden in der CSFR die zweiten freien Parlamentswahlen seit der Novemberrevolution 1989 statt. Die gesellschaftliche Situation - vornehmlich in der Tschechei - analysiert unser Mitarbeiter in Prag.

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Es gibt einen Schlüssel zum besseren Verständnis des Rätsels der ehemaligen sozialistischen Länder: man muß einsehen, daß die kommunistische Partei keine politische Partei ist. Sie kennt nur zwei Wesensformen: vor der Machtübernahme und nachher. Im Moment, da sie die Macht ergreift, verschwinden alle demokratischen Spielereien.

Der Grund, warum die tschechoslowakischen Kommunisten ohne gewaltsamen Widerstand seit 1989 auf ihre Posten verzichteten, liegt gerade in dieser Formenleere. Sie hatten kein Verhaltensschema zur Hand. Und der Grund, warum sie heute so ruhig und tolerant aussehen, ist, daß sie sich wieder gefunden haben. Diszipliniert - wie es der „demokratische Zentralismus" der Partei vorschreibt, stehen sie wieder am Anfang, in der ersten vorrevolutionären Phase.

Die Kommunisten in der CSFR haben in der Mehrheit die ideologischen Farben gewechselt - und viele Bürger glauben ihnen, daß sie sich im neuen Trikot viel besser fühlen. Die Struktur ihrer Strategien bleibt davon aber unberührt.

Die Sozialdemokratie war nach dem Putsch des Jahres 1948 von den Kommunisten entweder gekauft oder betrogen. Die gekaufte Mehrheit verschwand im roten Meer der KP, die betrogene Minderheit wurde zu einer Märtyrerquelle.

Die Wiedergeburt der Sozialdemokratie nach dem November 1989 hat sich im Zeichen dieser alten Spaltung entwickelt. Die kleinere Gruppe mit klarantitotalitärerOrientierung distanzierte sich von der viel größeren populistischen Linkspartei. Vor der zweiten freien Wahl gibt es von der kleineren Gruppe keine Spur mehr, die größere hat - ganz symptomatisch - drei Ex-Kommunisten als Wahl-Leader. Fisera beschäftigte sich unter dem alten Regime mit einer bürokratischen Variante des Kreativitätstrainings für Betriebsleiter. Jetzt spielt er den toleranten Weisen im Hintergrund. Zeman ist rational in seinen fehlerlosen langen Sätzen, die er mit kaltem Humor pfeffert, und irrational in den Thesen, die er verteidigt. Komärek hat als stärkste Waffe die Unkontrollierbarkeit seiner emotionalen Sprachflut zur Verfügung.

Das „Bürgerforum" (OF) in Böhmen oder die „Öffentlichkeit gegen Gewalt" (VPN) der Slowakei vermittelten ursprünglich etwas vom Paradies, wo ein Generalsekretär der KP, ein katholischer Priester, ein Volksarmee-Offizier und ein Trotzkist freundlich an einem Tisch saßen. Diese mythische Einheit war leider nur negativ begründet. Ihr gemeinsamer Nenner war, daß diese Persönlichkeiten alle Opfer oder zweitrangige Bürger des kommunistischen Regimes waren.

Die beiden Gruppierungen, die in der Meinungsgunst weit auseinander liegen - die liberale „Bürgerliche Demokratische Partei" (ODS) und die neugegründete „Christlichdemokratische Partei" (KDS) - sind als einzige von allen anderen bedeutenden Teilen des ehemaligen „Bürgerforums" eine Wahlkoalition eingegangen.

Havel - Symbol der Einheit

Nur Präsident Vaclav Havel ist noch Symbol der Einheit. Die Helden der anderen Nachfolgeparteien stellt die Fama in kontrastierenden Doppelporträts dar: Vaclav Klaus (ODS) als Spitzenökonom, der keine andere Persönlichkeit von Format neben sich duldet; Jifi Dienstbier („Bürger-bewegung",OH) als geschickten Außenminister, der zuviele ehemalige Stasi-Agenten in seiner nähe toleriert; oder Petr Pithart (OH) als brillanten Politologen, der sich in der praktischen Politik wie ein Elefant im Porzellanladen aufführt. In der Slowakei ist man mehr und mehr in die Figur des Ex-Boxers Vladimir Meciar verliebt, der auf der Saite des nationalen Selbstwertgefühls spielt.

Von Zeit zu Zeit kann man gewisse politische Spannungen zwischen der in Umfragen starken ODS und dem anderen Kind des Bürgerforums, der „Bürgerlich Demokratischen Allianz" (ODA), beobachten. ODA ist eine kleine Partei, die sich eher auf die Regierungsmitglieder in ihren Reihen konzentriert. ODS hat eine breite Basis, jedoch ist Finanzminister Klaus ihre einzige bekannte Persönlichkeit.

Wie steht es um die tschechoslowakische Gesellschaft? Auf den ersten Blick scheint allers klar: Überquellende Schaufenster versus leerer Geldbeutel, Opulenz versus Misere. Unter der Alltagsoberfläche ertastet man eine andere Spannung: die Faulheit des Monopoldenkens versus die Dynamik des Unternehmens. Den „Massen" fehlt jetzt Gelegenheit zum Gehorsam. Die ewigen Ketzer finden keinen allmächtigen Herrn, gegen den sie rebellieren könnten. Die unfruchtbare Skepsis des Schwejk verbreitet sich wie eine Seuche.

Die unmittelbare Antwort auf die Herausforderung des November 1989 kam von Studenten und Schauspielern. Die Zehntausenden und später Hunderttausenden haben sich nur in den größeren Städten versammelt. Das Land hingegen ist stumm und mißtrauisch geblieben.

Die Mitglieder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ohne Bodenbesitz zittern, daß sie die Rekruten einer Armee von Arbeitslosen werden. Die Mehrheit der altneuen Besitzer des Bodens nach der Restitution sind Staatsbürger ohne Erfahrung in der Landwirtschaft. Ke'in Wunder, daß auf diesem Boden am besten Halbwahrheiten, Gerüchte und Ängste wachsen. Die Bewohner des Sudentenlandes werden von Alpträumen über die Rückkehr von Deutschen und Österreichern verfolgt. Werden die Wähler auf dem Lande diese Stimmung die Parteien merken lassen?

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