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Das Verwirrspiel um die WEU

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Die Westeuropäische Union (WEU) war bis vor rund einem Jahr ein mit der NATO verknüpftes, gleichwohl rechtlich selbständiges Verteidigungsbündnis. Was ist sie heute? Was hat sie mit unserer EG-Politik zu tun?

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Die Westeuropäische Union (WEU) war bis vor rund einem Jahr ein mit der NATO verknüpftes, gleichwohl rechtlich selbständiges Verteidigungsbündnis. Was ist sie heute? Was hat sie mit unserer EG-Politik zu tun?

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Ihre Gestalt erhielt die WEU 1954/55, als die Bundesrepublik souverän wurde, zugleich aber in ein gemeinsames Sicherheits- und Rüstungskontrollsystem eingebunden werden sollte. Dies war damals das Hauptziel der sieben Mitglieder (der sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft und Großbritanniens). Je mehr Westdeutschland als gleichberechtigtes Mitglied in die NATO hineinwuchs, und je stärker die politische Einbindung in die EG wurde, desto mehr verlor das ursprüngliche Motiv an Gewicht. Die WEU war tatsächlich jahrzehntelang kaum aktiv.

Seit dem Vertragsabschluß von Maastricht am 7. Februar 1992 ist das anders: die WEU wird zum „integralen Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union”, die durch diesen Vertrag errichtet wird. Sie soll die Verteidigungspolitik der Europäischen Union planen und durchführen. Mit der Politik der NATO muß diese Politik „vereinbar” sein, nicht unbedingt identisch.

Dieser Entschluß der EG, die Firma „WEU” als Tochtergesellschaft zu übernehmen, kommt nicht von ungefähr. Die EG-Staaten sind auch nicht erst durch die Einsicht in ihre Ohnmacht gegenüber den Massakern in Jugoslawien auf die Idee gekommen, Europa militärisch handlungsfähig zu machen. Es hatte schon früher Versuche zur Aktivierung der WEU gegeben, obwohl im Vertrag von 1954 steht, daß die Organisation mit der NATO zusammenarbeiten und daher keine eigenen militärischen Stäbe und Kommandoeinheiten einrichten will.

Immer wenn es Anlaß gab, zu überlegen, ob Westeuropa nicht eigene Sicherheitsinteressen zu verfolgen hätte, kam die Rede auf die WEU. In Amerika reagierte man darauf mit Unbehagen - so als gäbe es Grund zur Sorge, die Europäer wollten sich „abkoppeln”.

Als Anfang 1985 die amerikanisch-sowjetischen Rüstungskontrollgespräche in Genf bevorstanden, lud der WEU-Vorsitz zu einer Diskussion darüber ein, welche gemeinsamen Interessen die Westeuropäer bei künftigen Abrüstungsrunden geltend machen sollten. Die USA verlangten massiv, daß so etwas nicht in ihrer Abwesenheit erörtert würde. Die Westeuropäer waren schockiert. Fast zwei Jahre lang gab es innerhalb der WEU Funkstille. Erst als Ronald Reagan und Michail Gorbatschow dann in Reykjavik Vereinbarungen trafen, die sich nicht in dem Rahmen hielten, den man mit den NATO-Partnern vorabbesprochen hatte, setzte sich in Westeuropa die Meinung durch, man müsse nun doch daran gehen, die WEU schrittweise zu aktivieren und die EG-Integration auch auf die Sicherheitspolitik auszuweiten.

Strengere Beistandsverpflichtung

Das führte zu den die WEU betreffenden Entschlüssen von Maastricht. Auf ihnen bauten dann die „Petersberger Beschlüsse” des WEU-Ministerrats vom Juni 1992 zur „Stärkung der operationellen Rolle der WEU” auf; unter anderem wurde die Einrichtung eines eigenen Planungsstabes beschlossen, aber auch die Unterstellung militärischer Einheiten unter eine WEU-Befehlsgewalt; sie sollen unter anderem für friedenserhaltende und friedensschaffende Einsätze bereitgestellt werden. Zug um Zug mit der Verwirklichung der „Europäischen Union” soll also auch die WEU als deren militärisches Organ aus dem Wartestand in den aktiven Dienststand überführt werden.

Rechtlich war die WEU von Anfang an kein bloßer Papiertiger: Die Beistandsverpflichtung geht erheblich weiter als die des NATO-Vertrages. Wenn ein NATO-Staat angegriffen wird, entscheiden die Partner autonom und unabhängig, ob sie militärischen Beistand leisten wollen oder nicht. Der WEU-Vertrag verpflichtet hingegen jedes Mitglied automatisch, einem angegriffenen Vertragspartner „alle in seiner Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung zu leisten.” Eine solche Klausel hätten die europäischen NATO-Partner auch schon gern im Vertrag über die Atlantische Allianz gesehen; aber dazu sind bis heute die USA nicht bereit.

Wie sich das Verbundsystem EG/WEU jetzt weiterentwickeln wird, läßt sich frühestens dann sagen, wenn man sieht, welche Europapolitik die USA unter Präsident Bill Clinton betreiben werden: ob die transatlantische Bindung gestärkt oder gelockert, ob die Truppenpräsenz mehr oder weniger vermindert wird und ob die Amerikaner noch deutlicher als im Fall Jugoslawien sagen werden: Europäer, das ist Eure Sache... Aber schon heute ist klar, daß diesem Verbundsystem „Europäische Union” eine zunehmend wichtige Funktion zukommen wird, die kaum an die NATO weitergegeben werden kann: weil nämlich diese Europäische Union mehr als „nur” eine Militärallianz ist. Es ist ein Gemeinplatz geworden, daß Sicherheitspolitik vorbeugenden Charakter haben muß und sich nicht auf die militärische Ebene beschränken darf: Wenn bereits Panzer auffahren und Schüsse fallen, ist der Friede bereits gebrochen. Stabilität und Friedlichkeit des Zusammenlebens hat nicht nur eine militärische Dimension, sondern auch eine ökonomische, eine ökologische, eine soziale - ja sogar auch eine kulturelle; das zeigen jetzt gerade die ethnischen und die im Namen ideologischer Fanatismen ausgefochtenen Konflikte.

Deshalb kommt es darauf an, daß es eine handlungsfähige Organisation gibt, die auch über wirtschaftliche, politische und logistische Potenzen verfügt, um Friedensstörern rechtzeitig entgegenzutreten, notfalls auch mit einem militärischen Arm. Wer anders als die Europäische Union könnte das sein? Die KSZE jedenfalls nicht. Dafür, daß sie Europa befähigen könnte, „seine Probleme... in den Griff zu bekommen” oder gar den „Oberbefehl” bei Militäraktionen zu übernehmen, wie sich das Severin Renoldner vorstellt (siehe Seite 4), fehlen ihr die Voraussetzungen, und die Teilnehmerstaaten sind auch nicht bereit, sie ihr zu geben.

Der Autor ist Vorsitzender des Direktoriums des Instituts für Europäische Politik in Bonn.

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