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Das „Virus Dostojewskij"

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In der Zwiespältigkeit des Dichters zwischen Humanität und Menschenverachtung, zwischen gläubiger Skepsis und Intellek-tualität finden sich russische Patrioten.--

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In der Zwiespältigkeit des Dichters zwischen Humanität und Menschenverachtung, zwischen gläubiger Skepsis und Intellek-tualität finden sich russische Patrioten.--

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Wenn heute von Rußland die Rede ist, dann geht es um Michail Gorbatschow und Boris Jelzin, um die Wirtschaft. Eine zwar verständliche, aber unzulässige Reduzierung. Wer Rußland verstehen will, muß auch die Literatur kennen, die seine Menschen lieben (und das sind nicht in erster Linie die Bücher von Alexander Sol-schenizyn). Da es in Rußland nie eine freie öffentliche Meinung gab, haben seine Schriftsteller - mehr noch als in anderen Ländern - in ihre Erzählungen, Romane und Theaterstücke immer politische, philosophische und religiöse Gedanken hineinverpackt, die von ihren Lesern auch verstanden wurden.

Ein russischer Schriftsteller, der von den Kommunisten mit dem Etikett „reaktionär" versehen und beinahe totgeschwiegen wurde, erlebt in den letzten Jahren eine Wiederentdek-kung: Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, dessen Romane „Brüder Karamasow", „Schuld und Sühne", „Der Idiot" und „Die Dämonen" längst zu den Klassikern der Weltliteratur gehören. Das hat mit dem Wiedererwachen eines russischen Nationalbewußtseins zu tun.

In seiner Jugend hatte sich Dostojewskij (1821-1881) an den französischen religiösen Sozialisten orientiert. Als Mitglied einer revolutionären Gruppe wurde er verhaftet, zum Tode verurteilt und im letzten Augenblick zu vier Jahren Zwangsarbeit und mehreren Jahren Militärdienst begnadigt. Dostojewskij war tief religiös, vertrat aber ein freies, nicht-institutionalisiertes Christentum; er litt mit dem Volk, zu dem für ihn (im Gegensatz zu Tolstoi) nicht nur die Bauern, sondern auch die städtische (Petersburger) Bevölkerung gehörte.

Er lehnte Revolutionen ab, akzeptierte jedoch die individuelle Revolte der „Erniedrigten und Beleidigten". Er war anti-westlich, anti-katholisch, russisch-nationalistisch und antisemitisch eingestellt und durchdrungen von der Idee eines neuen russischen Menschen, einer Mischung von religiös-sozialistisch, westlich-intellektuell und verbunden mit der russischen Erde. Er zählt zu den größten literarischen Tiefenpsychologen -Friedrich Nietzsche hat ebenso von ihm gelernt wie Sigmund Freud -, und seine Bücher sind breit angelegte politische, religiöse und philosophische Kriminalromane.

Der „wahre Russe"

Einer dieser Romane, „Die Dämonen", kam bei dem diesjährigen Festival „Theaterformen 91" in Braunschweig als erste russische Dramatisierung zur Uraufführung. Vor etwa dreißig Jahren wurde eine Theaterfassung der „Dämonen" von Albert Camus am Wiener Akademietheater gespielt. Der Petersburger Regisseur Lew Dodin bearbeitete und inszenierte das Werk auf drei Abende verteilt, jeweils drei Stunden ohne Pause. Die Aufführung in russischer Sprache mit (ausgezeichneter) simultaner Übersetzung war voll innerer und äußerer Spannung.

Dodin hat die epische Breite beibehalten und auf mitteleuropäische Theatergewohnheiten keine Rücksicht genommen (entsprechend ratlos klang die Reaktion des Publikums), aber gerade dadurch ermöglichte erein Herantasten an das, worin die neue Faszination Dostojewskijs für das heutige Rußland liegen könnte. Das Petersburger Maly Theatr, das die „Dämonen" in Braunschweig zur Uraufführung brachte, ist „seit drei Jahren vom .Virus Dostojewskij' infiziert'", erklärte Dodin.

Die Zwiespältigkeit Dostojewskijs, die in allen seinen Werken, auch in seinen journalistischen Arbeiten, zum Ausdruck kommt, löste stets, jeweils selektiv interpretiert, große Begeisterung oder heftige Anfeindung aus. Er war einerseits von der Nichtswürdigkeit der Menschheit überzeugt, und hielt nur das russische Volk dazu auserwählt, den wahren Menschen hervorzubringen.

Dostojewskij war ein menschenverachtender Humanist, ebenso fasziniert vom geistigen Verbrechen wie vom instinktiv Guten, er war ein leidenschaftlicher Intellektueller, ein religiöser Freigeist, ein gläubiger Skeptiker, ein nihilistischer Gläubiger, Spieler und Epileptiker.

Der „Virus Dostojewskij" scheint auch auf Wien übergegriffen zu haben. Im November war in der Virgilkapelle unter dem Wiener Stephansdom eine deutschsprachige Bearbeitung der „Aufzeichnungen aus dem Untergrund" zu sehen und im Frühjahr 1992 wird Schauspieler Uli Hofmann eine Dramatisierung des Ro-manes, JDer Idiot" in der „Gruppe 80" inszenieren.

Schon einmal wurde Dostojewskij zum Gegenpol einer russischen Entwicklung hochstilisiert: nach 1917 stand er in Österreich und Deutschland für den „wahren Russen" gegenüber den Vertretern des sowjetischen Bolschewismus.

Steht er nun für den nachkommunistischen neuen russischen Menschen, wäre das ebenso einseitig verzerrend wie damals. Seine Vereinnahmung durch die national-patriotische Rechte in Rußland sollte jedenfalls zu denken geben.

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