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Das Volk macht Politik

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Es gab keinen Fenstersturz in Prag. Die vorletzten Tyrannen Europas fielen in einer „fröhlichen Revolution“.

Was in diesen Tagen in der Tschechoslowakei passiert, durch eine Koalition von Arbeiterschaß und Intelligenz erzwungen, kommt nicht von ungefähr; ist auch nicht ausschließlichplötzliche Folge der politischen Umwälzungen in den Nachbarstaaten. Der Abschied vom Realsozialismus in der CSSR hat eigene Wurzeln. Nicht übersehen und unterschätzt werden darf der Anteil der katholischen Kirche an der Bildung eines Widerstandpotentials. Der „Normalisierung“ nach

1968 hat sich die Kirche nie gebeugt. Sie ging - das hat Altbundespräsident Rudolf Kirchschläger vor genau einem Jahr in einem Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen in Prag betont - als einzige gesellschaftliche Kraft gestärkt aus der brutalen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ hervor.

Der konsequente Kampf des Regimes gegen das Entstehen einer Art von Öffentlichkeit im kirchlichen Bereich fruchtete nichts. Numerus clausus in den Seminaren und Berufsverbot für Kleriker erwiesen sich als kontraproduktiv.

Jede religiöse Manifestation bekam - gewollt oder nicht -politischen Charakter. Die Forderung nach Religionsfreiheit - erhoben in einer vom Preßburger Rechtsanwalt und katholischen Aktivisten Jan Carnogursky initiierten undvon mehr als 600.000 Gläubigen unterschriebenen Petition - wurde Angelpunkt politischer Veränderungen. Heute organisiert der mit Berufsverbot belegte katholische Priester Vaclav Mdly den Aufstand des Volkes.

Der greise Prager Erzbischof, Kardinal Frantisek Tomasek, ließ über Mdly den Hunderttausenden am Prager Wenzelsplatz zurufen: „Was ihr fordert, ist gerecht. Wir brauchen eine demokratische Regierung. Es muß zu freien Wahlen kommen.“

Unbeirrt hat sich die Kirche in der CSSR in den vergangenen Jahren in jeder schwierigen Situation auf jene humanistische Ordnung berufen, die sich Europa im Helsinki-Prozeß gegeben hat und gibt. Vom Regime wurde das als „Steuerung aus dem Ausland“ stur bekämpft - und übersehen, daß sich das Volk die KSZE-Normen längst als Maxime einer erneuerten Gesellschaft und eines umzugestaltenden Staates zu eigen gemacht hatte.

Der Geist von Helsinki und von Wien weht mächtig in Osteuropa. Dieser Geist ist durchaus etwas anderes als das, was der US-Botschafter in der Bundesrepublik, Vernon Walters, mit „Winde der Freiheit aus dem Westen“ umschrieb; ist auch anders als jener Druck der NATO, mit dem sie - so Generalsekretär Manfred Wörner -den Reformvorgang im Osten „unterfuttert“ habe.

Das Volk macht Politik in einem neuen Geist; begreift sich als Subjekt der Geschichte. Das Volk als Opfer der Politik ist aber versöhnungsbereit. Abrechnung ist nicht das, was Tschechen und Slowaken verlangen. Ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz, für den Alexander Dubcek steht, ist nicht mehr gefragt. Eine Demokratisierung des Systems ist unseren nördlichen Nachbarn zu wenig. Was sie wirklich einfordern, ist nicht mehr und nich t weniger als „volle Demokratie “.

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