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Das Vorspiel zum Weltkrieg

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Im Oktober 1912 — die Italiener verhandelten mit den Türken noch über die Beendigung des Tripolis-Krieges — verdichtete sich die seit einiger Zeit schwelende Krise zwischen den kleineren Balkanstaaten und der Türkei zu akuter Kriegsgefahr. Es war klar, daß die Balkanstaaten die prekäre Lage der Türkei ausnützen und noch vor der Beendigung des Krieges in Afrika ihren Anteil an der Beute unter Dach bringen wollten. Daß zwischen Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro bereits ein Bündnis und konkrete Verabredungen bestanden, wußte man nur in Petersburg und Paris, während man es in Wien nur ahnte. Man kann die k. u. k. Diplomatie nicht von der Schuld freisprechen, daß sie die vorauszusehenden Folgen des italienisch-türkischen Konfliktes nicht erkannt und die Lage zu leichtfertig beurteilt hatte. Als die Staaten des Balkanbundes, die Ratschläge und Warnungen der Großmächte mißachtend, den Krieg eröffneten, sah sich der Ballhausplatz einer Situation gegenüber, die schwieriger war als die von 1908/09, und vielleicht die schwierigste, die Österreich seit 1866 zu meistern hatte. Sie erforderte genau das, was der österreichischen Politik seit je abging: Wendigkeit und rasche Entschlüsse, zugleich aber Konsequenz und den Mut, das Steuer radikal herumzuwerfen.

Österreich hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere seit dem Amtsantritt Aerrenthals die Linie seiner klassischen Balkan-pölitik verlassen. Noch auf dem Berliner Kongreß (1878) war es als Freund der christlichen Balkanvölker aufgetreten und hatte die Türkei für die unhaltbaren Zustände in Bosnien und der Herzegowina verantwortlich gemacht. Die Mächte erteilten Österreich-Ungarn das Mandat zur Besetzung, Befriedung und Verwaltjung der Provinzen Bosnien und Herzegowina, sie hätten ihm auch die Zustimmung zur Annexion dieser Gebiete gegeben» wenn sich nicht Graf Andrässy zur Überraschung des Kongresses mit der Okkupation begnügt hätte. Ferner wurde Österreich das Recht zugesprochen, den Sandschak von Novipazar militärisch zu besetzen und diese Besetzung nötigenfalls „über Mitrowitza hinaus“ auszudehnen. Auch von dieser Vollmacht wurde, obwohl die Zustände in Mazedonien ausreichende Begründung dazu geliefert hätten, von Wien kein Gebrauch gemacht. In den achtziger Jahren ließ sich die österreichische Politik begründeterweise in permanente Streitigkeiten mit Rußland wegen Bulgarien ein, an dem Österreich eigentlich nicht interessiert war. Lediglich, daß man Serbien nach dessen Niederlage bei Slivnica gegen die Bulgaren in Schutz nahm und deren Vormarsch auf Nisch Einhalt gebot, lag im österreichischen Interesse.

Der bestialische Körnigsmord in Belgrad (1903) hätte Österreich die

Begründung für die Besetzung Belgrads und eine mit den österreichischen Interessen übereinstimmende Lösung der serbischen Frage geboten. Die Mächte — auch Rußland — erwarteten damals einen solchen Schritt und hätten sich ihm nicht widersetzt, Rußland schon deshalb nicht, weil es unmittelbar vor einem Krieg in Ostasien stand. Aber die Wiener Politik war durch die Rücksicht auf Budapest gebunden. Die Magyaren, besser gesagt, die miadyarlsche Herrenklasse, wünschte keine Vermehrung des slawischen Bevölkerungsantedls in der Doppelmonarchie und schon gar nicht die Bildung eines groß-illyrdschen Königreiches (Kroatien, Slawonien, Dalmatien, Bosnien und Serbien) als dritten Staat unter der Krone der Habsburger. Da man nicht wußte, was man mit Serbien anfangen könnte, unterließ man es, dort einzumarschieren, verzichtete aber auch darauf, sich freundschaftlich au dem neuen Regime in Belgrad zu stellen und gute Beziehungen zu dem kleinen Nachbarstaat zu pflegen. Im Interesse des magyarischen Großgrundbesitzers führte man einen Zollkrieg gegen Serbien, behandelte es betont unfreundlich und stand der wachsenden Aktivität Rußlands in Belgrad tatenlos gegenüber. Als die jungtürkische Revolution 1908 abermals einen Anlaß schuf, die bosnische Frage zu bereinigen, schlug man nicht den völkerrechtlich gebotenen Weg ein, mit den Signatarmächten der Berliner Kongreßakte zu verhandeln, setzte sich auch mit Belgrad nicht in Verbindung, das sich gegen gewisse Zugeständnisse, etwa die Überlassung des Sandschaks von Novipazar, mit der Annexion vielleicht abgefunden hätte, obwohl es sich Hoffnungen auf Bosnien gemacht hatte, und die österreichische Politik geriet in eine schwierige Lage, die nur deshalb nicht zum Kriege führte, weil Rußland unter den Folgen der Revolution und der Niederlagen in

Ostasien ldtt und nicht in der Lage war, Krieg zu führen, anderseits das Deutsche Reich sich vorbehaltlos hinter Österreich stellte.

In Berlin und in Wien meinte man, einen großen Erfolg errungen zu haben. Nur der Chef des k. u. k. Generalstabes, General Conrad, der zum Kriege geraten hatte, sah düster in die Zukunft. Hätte man in Wien die Balkanpolitik fortgesetzt, die Österreich seit den Tagen des Prinzen Eugen als Erfüllung seiner historischen Mission angesehen hatte, also die Verdrängung der Osmanen aus Europa und die Befreiung der christlichen BaLkanvöl-ker, dann wäre es auch nach 1909 vielleicht noch möglich gewesen, mit dem gedemütigten und gegenüber Rußland, das ihm keine Hälfe gewährt hatte, verärgerten Serbien zu einer Verständigung zu kommen. Man ließ aber die Dinge an sich herankommen und erwachte erst aus dem Schlummer, als plötzlich der ganze Balkan in Flammen stand. Obendrein täuschte man sich über das militärische Kräfteverhältnis. Nicht alle, aber ein Großteil der verantwortlichen Männer rechneten mit dem Sieg der Türken. Unter dieser Voraussetzung meinte man, sich Zeit lassen zu können, legte sich im Einvernehmen mit den übrigen Großmächten auf die Erhaltung des Status quo fest und begann erst, nachdem die Verbündeten sehr rasch eindrucksvolle Siege über die nicht kriegsbereiten Türken erfochten hatten, nach einer konstruktiven Lösung zu suchen. Man sah sie nun darin, daß man den Serben die Erwerbung von Altserbien gestatten wollte, wenn sie sich zu einer Zollunion mit Österreich-Ungarn bereitfänden. Noch immer aber ließ man sieh Zeit. Man erwog, einen österreichischen Parlamentarier nach Belgrad zu entsenden, der die serbische Bereitschaft zu einer Zollunion erkunden sollte. Statt aber Kramaf oder Masaryk zu entsenden, übertrug man die Aufgabe dem Professor Josef Redlich, einem zweifellos sehr klugen, vor allem in wirtschaftlichen Fragen ausgezeichnet bewanderten, aber eben doch als deutschnational geltenden Liberalen. Erst als die Mission Redlich gescheitert war, fand man sich damit ab, daß Masaryk auf eigene Faust nach Belgrad fuhr. Den Serben war inzwischen nach ihren Siegen der Kamm geschwollen. Sie lehnten die Zollunion nicht rundweg ab, erklärten aber, daß vorläufig keine serbische Regierung es wagen könnte, der Nation einen wirtschaftlichen Anschluß an Österreich zuzumuten.

Österreich aber hatte einen weiteren Pfeil im Köcher. Serbien wollte unbedingt einen Adriahafen und einen Korridor durch albanisches Gebiet gewinnen. Hier hätte die Monarchie nochmals Gelegenheit zu einem Tauschgeschäft gehabt. Statt dessen versteifte man sich in Wien darauf, daß unbedingt ein souveränes Albanien gebildet werden müsse und daß Serbien auf keinen Fall einen Hafen an der Adria erhalten dürfe. Daraus entstand eine ernste Krise, die wieder nahe an einen Krieg heranführte. Die Albanienpolitik des Balihausplatzes war ausgesprochen töricht. Man holte den Italienern die Kastanien aus dem Feuer, denn sie aspirierten damals schon auf Albanien, vor allem auf den Hafen von Valona, den Österreich vernünftigerweise hätte den Griechen zuschanzen sollen. Der alte Kaiser, wie so oft der vernünftigste Mann im Rate, neigte dazu, den Serben den albanischen Hafen zu überlassen. Ebenso sinnlose Prestigepolitik war es, als man den Montenegrinern Skutari wieder wegnahm, statt es ihnen zu lassen und von ihnen als Kompensation den Lorcen zu verlangen. Es war am Ende das Machtwort Erzherzog Franz Ferdinands, das eine Fortsetzung der Politik der Kriegsdrohungen und des reinen Prestiges beendete. In seinem historischen Brief an den Außenminister Graf Berchtold vom 1. Februar 1913 entwickelte er sein Friedensprogramm und beschwor den Minister, alles zu vermeiden, was zu einem Kriege mit Rußland führen könnte.

Nochmals hätte eine elastische und weitblickende österreichische Politik die Lage zugunsten der Monarchie verändern können, als es zwischen Bulgarien und seinen bisherigen Verbündeten wegen Mazedoniens zum Kriege kam. Wenn sich Österreich nun auf die Seite Serbiens und des in den Krieg eingreifenden Rumänien gestellt hätte, hätte das mindestens einen Stimmungsumschwung in Serbien herbeiführen können. Wieder setzte man in Wien auf das falsche Pferd. Man ergriff die Partei Bulgariens, das in wenigen Tagen der Übermacht seiner Gegner erlag und nicht nur Silistria an Rumänien abtreten und Mazedonien den Serben und Griechen überlassen, sondern auch Adrianopel wieder an die Türken herausgeben mußte. Österreich aber hatte es sich mit seinem einzigen Verbündeten auf dem Balkan, mit Rumänien, verdorben und die Feindschaft der Serben gegen die Monarchie hatte sich noch gesteigert. Wie Österreich einst nach dem Krimkrieg, ohne aktiv an ihm teilgenommen zu haben, der eigentlich Besiegte war, so hatte es auch jetzt wieder an Prestige verloren und die Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Expansion auf dem Balkan auf lange hinaus verschüttet.

Während der Krise, die sich über dreiviertel Jahre hinzog, hatte es sich gezeigt, daß sich die europäische

Lage gegenüber 1908/09 von Grund auf verändert hatte. Rußland war nun nicht mehr bereit, eine Demütigung oder Machitmtoderuing Serbiens zuzulassen. In Berlin fürchtete man einen Zusammenstoß mit Rußland, weil er auch den Krieg gegen Frankreich bedeuten würde und die Haltung Englands zweideutig war. Um so erstaunlicher ist es, daß man auf dem Ballhausplatz wenige Monate später all das vergessen hatte und sich einbildete, man könne eine Strafexpedition gegen Serbien durchführen, ohne daß Rußland eingreifen werde. Und es ist eine besonders groteske Fügung, beinahe eine Tragikomödie, daß man die Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers als Kriegsgrund wählte, obwohl gerade der Tote von Sarajewo vor diesem Krieg immer wieder gewarnt hatte. Der amerikanische Historiker Professor Kann hat daraus den Schluß abgeleitet, der erste Weltkrieg sei nicht ausgebrochen, weil die Serben den Erzherzog-Thronfolger ermordeten, sondern weil Franz Ferdinand nicht mehr lebte. Mit ihm sei die stärkste Stütze des Friedens, der einzige weitblickende Staatsmann Österreichs, dahingegangen. Hätte er dien Mordanschlag überlebt, so wäre es nicht zum Krieg gekommen.

Es spielte fredlich noch eine Rolle, daß Kaiser Wilhelm II., der 1913 mit dem Thronfolger einig war und eine kriegerische Lösung ebenfalls ablehnte, nach dem Mord in Sarajewo in seinen monarchischen Gefühlen beleidigt und nicht mehr fähig war, die Lage ohne Emotionen zu beurteilen. Er wähnte die Monarchen Rußlands und Englands mit sich einig, weshalb er nicht an einen großen Krieg glaubte.

Die falschen Wege hatte die Wiener Politik freilich schon seit langem betreten. Im Geiste des Prinzen Eugen und Josephs II. hätte man 1805, statt Napoleon zu bekriegen, den Freiheitskampf der Sariben unterstützen müssen, die sich um Hilfe an Österreich gewandt hatten. Während der griechischen Erhebung hätte man mit Rußland gegen die Türkei vorgehen können, ebenso 1877. Aber dazu hätte es der Umwandlung Österreichs in eine Föderation seiner Völker bedurft, wie sie 1848 wahrscheinlich möglich gewesen wäre. Ob es Franz Ferdinand gelungen wäre, sie noch durchzusetzen, ist eine nicht mehr zu beantwortende Frage. Eine höhere Macht hat 1914 das letzte Wort gesprochen.

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