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Das wilde Drama des Heiligen

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Der in Budapest lebende katholische Dichter und Essayist János Pilinszky gehört zu den bedeutendsten Repräsentanten christlich inspirierter, europäischer Gegenwartsliteratur. Er ist Mitarbeiter der Budapester katholischen Wochenzeitschrift „Uj Ember“. Dank der Adaptionen des französischen Dichters Pierre Emmanuel und des englischen Dichters Ted Hughes sind seine Gedichte auch im französischen und im englischen Sprachraum bekannt geworden. Dem Salzburger Otto-Müller-Verlag ist die Herausgabe des deutschsprachigen Gedicht- und Essaybandes „Großstadt-Ikonen“ (1971) zu verdanken.

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Der in Budapest lebende katholische Dichter und Essayist János Pilinszky gehört zu den bedeutendsten Repräsentanten christlich inspirierter, europäischer Gegenwartsliteratur. Er ist Mitarbeiter der Budapester katholischen Wochenzeitschrift „Uj Ember“. Dank der Adaptionen des französischen Dichters Pierre Emmanuel und des englischen Dichters Ted Hughes sind seine Gedichte auch im französischen und im englischen Sprachraum bekannt geworden. Dem Salzburger Otto-Müller-Verlag ist die Herausgabe des deutschsprachigen Gedicht- und Essaybandes „Großstadt-Ikonen“ (1971) zu verdanken.

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Meine Worte richte ich an alle, zu allererst an mich selber. Dadurch schließe ich aus, einen bestimmten Menschen zu verurteilen, und erfülle so die zweite, nach dem Gebot der Liebe wichtigste, flehentliche „Erwartung“ Gottes. Die „Reihenfolge“:

1. Alles ist Gnadę.

2. Liebet einander.

3. Leicht ist es, den zu lieben, der auch uns liebt. Daher - als Maß - „Liebe deinen Feind.“ Wer seinen Feind nicht liebt, der liebt niemanden, das folgt unmittelbar aus der Totalität der Liebe. Wer das tut, findet dafür eine Ausrede, aber gerade diese ist die Haupteingeberin der Sünde, unser Ausschlupf in die Verdammnis, die Dienstbotenstiege der Hölle.

Wer mit Jesus und für Jesus liebt, haßt die Sünde (als einen fremden

Gegenstand) und liebt zutiefst, mit einer bis zum äußersten gesteigerten Liebe den Sünder - ohne Ausnahme - wie seinen nach Gottes Antlitz und Ebenbild geschaffenen lebenden und leidenden Bruder.

Wenn du diesen zwei „göttlichen Bitten“ entsprichst, hast du viele Surrogate, den-ganzen Schwall der moralischen Ersatzwörter nicht mehr nötig. Fortan:

1. Darfst du keine Dankbarkeit erwarten.

2. Empfängst du die Nägel des Kreuzes an Stelle der Stecknadeln der Alltagssorgen.

3. Kehren sich „deine reellen Bestrebungen“ um, es zeigt sich, daß deine „Träume“ deine Realität, deine einzige wirkliche Freude und deine Arbeit auf dieser Erde sind. Ein Verwandter zum Beispiel hat mich sogar geohrfeigt, weil ich als unbemittelter Junge „wagte, mir einzubilden, ich sei ein Dichter“. Ein Beispiel dafür, daß allein der Heilige Geist unser „Souffleur“ sein kann.

Achten wir auch auf den Gehorsam. Die Deutschen haben Hitler gehorcht. Ist daraus eine Tugend geworden? 20 Millionen Tote, Männer, Frauen, Kinder, ausgerottete Familien.

Einfacher wäre es noch statt die als moralisch verschrieenen Gesetze zuerst zu prüfen, ob wir in Gottes Sonne oder im trügerischen Mondlicht der Pharisäer leben und handeln.

„Liebe deinen Feind.“ „Richte nie.“ Wenii wir, diese zwei Sätze vor Augen, moralisch sind, werden wir uns nicht irren. Da können wir niemals zu unserem eigenen Henker und zu dem der anderen werden, der seine Worte und Taten als Richtschwert ‘Schwingt. Jesus hat Petrus befohlen, das Schwert zurückzuziehen. Er hat ihm verboten, sich vor dem geliebten

Feind „zu verteidigen“. So heißt es wörtlich. Jesus hat uns kein Regelbuch, keinen Moralkodex hinterlassen, sondern das Kreuz, als er, selbst vom Vater verlassen, mit der Glut seines Herzens die Soldaten, die Herde geliebt und für sie gebetet hat, ohne den Schatten des Richtens. Das war seine letzte Gnade. Die einzige, die äußerste und die erste. Und all das, was darin keinen Platz hat, ist nicht das Kreuz, sondern die Moral der Pharisäer.

Pharisäer ist, wer wegen seiner Moral nicht zur Religion gelangt. Der Schächer. Dies ist eine schreckliche Falle. Die Versuchung des moralischen Menschen ist, daß er im Labyrinth der Religion auf halbem Weg stehen bleibt. Ermüdet er, versteinert er in seinem Pflichtbewußtsein? Wäre er doch lieber ein irrendes Lamm, dessen rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Das wird das Urteil des verbluteten Lammes ohne Urteil sein. Die Pflichtbewußten jedoch, deren rechte Hand notwendigerweise immer weiß, wo die linke ist und was sie tut - werden sie jemals aus ihrer „reinen Moral“ zur Religion gelangen? Zum Wahnsinn der Liebe? Zur Unentgeltlichkeit der Gnade? Zum wil den Drama des Heiligen? Zum Vater, der allein uns verurteilen könnte?

Und wo halten wir heute? Bei der „Achtung vor dem Gesetz“, damit wir nicht etwa zur Beute der Sünder werden. Wo halten wir? Bei der „liebevollen“ Verurteilung von konkreten Fällen und Personen? Beim Gesetzbuch der Pharisäer. Im besten Fall sind wir moralisch, was zugleich das größte Hindernis auf unserem Weg zur Religion ist. Christus ist infolge seiner Religiosität „gestürzt worden“, hat den Fußhaken und die Handnägel erhalten. Die moralische Menschenmasse aber stand unten auf der Erde, über den Sieg der Moral beruhigt. Jesus hat das Kreuz erhalten und die Nägel, die Moral aber den besseren Teil: die Papyrusrolle des ehrsamen Lebens in die Hand gedrückt.

Wie immer: gesiegt hat wieder einmal die Moral, die Rückständigkeit und die Ordnung. Die Sünder aber, die man zurecht nicht lieben darf und deren Person man noch mehr hassen soll als die Sünde, winden sich jetzt im wohlverdienten Fieber, in dieser unheilbaren Krankheit auf einem Fleck.

Papst Johannes Paul II. schwieg, als ein polnischer Bischof die Bemerkung machte, er verstünde seine Gedichte nicht. Ebenso hat die Religion für die Moral keine Worte. Das Urteil ist redselig, es kann sich auf Fakten, Recht, Dankbarkeit und Undanlę usw. berufen. Ihm gegenüber ist die Religion der stumme Gott selber, die unbegründete Liebe zum Feind, die Stille der Seele, die ewige „Verliererin“ der Geschichte. Es ist eine Ausnahme, wenn Petrus - entgegen der Bitte von Jesus - dennoch das Schwert zückt

(Inquisition, Kreuzzüge, Exkommunikation, Heilige Johanna usw.).

Und trotzdem: Jesus allein kann unser Glück sein, weil er an Stelle von Recht und Schwert das Kreuz gewählt hat. Wahrhaftig das Kreuz, und als man ihm dennoch oder gerade deshalb ins Antlitz gespuckt hatte, war seine Antwort nicht: Ja, genügt es euch nicht, daß ihr mich ans Kreuz geschlagen habt, ihr spuckt mich auch noch an? Seine letzte Bitte war: Ihr sollt einander vollkommen unentgeltlich lieben, Feind und Freund ohne Unterschied gleicherweise.

Seid die Söhne des Alls. Diese Erde ist bloß eure Herberge, eure Vorratskammer. Die Rasse, die Nation, die Familie, das Ich und das Wir sind zu wenig. Gerade dies war mein Skandal, der Skandal der Liebe und des Kreuzes. Ihr sollt alle lieben, besonders eure Feinde, da werdet ihr immer mehr verstehen, weshalb die Wahrheit stumm ist, und ihr werdet mit immer klarer werdender Einsicht die Moral plappern lassen über Recht, Ordnung, Dankbarkeit, freilich auch Undank, also über allerlei edle und tugendhafte Pflichten, Ermahnungen und Einmischungen. Eure Wahl ist unvermeidlich. Wie auch ich mich für die makellose Moral oder das Drama der Religion entscheiden mußte.

Ich habe an Stelle des Gesetzbuches das Kreuz als Draufgabe gebracht. Hier, auf der Höhe des Schmerzes und im Feuer des Fiebers bin ich bis zum Nachmittag selbst mit dem Mörder-Schächer eins geworden und noch vor Sonnenuntergang mit dem Vater. Begreift: Es gibt nichts anderes, allein die Liebe zum Feind kann vereinigen. Denkt gar nicht daran, zu verurteilen. Ihr sollt nicht „gut“ sein - ihr sollt nur beten.

Wie Papst Johannes Paul II. in Auschwitz gesagt hat: „Hier knie ich auf dem Golgatha.“ Knien: das ist das einzige und das meiste.

Der religiöse Mensch weiß grundsätzlich, daß er ein aus Gut und Böse geknetetes dramatisches Wesen ist, wie alle Menschen. Deshalb kann unsere einzige Wahl Gott sein, das heißt die reine Gnade. Und die einzige Gegenprobe ist die Antwort auf Gottes Frage, die stumme Frage des Kreuzes: Liebt ihr eure Feinde? Und wenn die Antwort ein unwiderstehliches „Ja“ ist, was - ohne Worte - allein die Gnade aussprechen kann, dann habt keine Angst und wägt in euch selber nichts mehr ab, alles weitere ist Gottes Sache.

Fortan werden die Nägel des Kreuzes süßer sein und die Warnungen und Stiche der Stecknadeln nicht mehr zählen. In der skandalösen Stille der Gnade beweist das ehrbare Stecknadelgeplapper der Menschen stichhältiger als alles: Ihr habt gut gewählt, als ihr in der „einsamen“ Stille Gottes die einsame Stille eures stolpernden Herzens gewählt habt. Der Wärmegrad eures Dramas wird vielleicht in die Höhe schnellen. Was zählt es? Das Entscheidende ist, daß fortan nicht mehr ihr es seid, die hin- und herwägen.

Und das wichtigste: fortan steigt ihr und stürzt ihr in Gottes Herzen, in seiner ausschließlichen Gnade wie Bach, wie Mozart oder wie der täglich träumende und leidende Namenlose zur Bestürzung des Spießbürgers.

(Aus dem Ungarischen von Eva und Roman Czjzek)

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