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Das Wunder im Völkerbund

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Sommer 1922. Die junge österreichische Republik wird vom Fieber der Inflation geschüttelt. Der Gehalt, am Monatscrsten empfangen, ist am 10. in Rauch aufgegangen; der am Samstag empfangene Wochenlohn ist am Mittwoch nichts mehr wert. Die Bürger reden vom Staate, der „nicht lebensfähig“ ist, die Mächte der Erde sprechen von Aufteilung. Die wenigen Erfolge des jungen Staates, die Volksabstimmung in Kärnten und die Landnahme des Burgenlandes, die von nichtsozialistischen Regiefungen erzielt wurden, ohne das ohnmächtige Land mit den Nachbarn zu verfeinden — zwei für jene Zeit geradezu ungeheure staatsmännische Leistungen —, scheinen vergeblich, wenn Österreichs Reststaat von der Landkarte verschwindet. „Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“

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Sommer 1922. Die junge österreichische Republik wird vom Fieber der Inflation geschüttelt. Der Gehalt, am Monatscrsten empfangen, ist am 10. in Rauch aufgegangen; der am Samstag empfangene Wochenlohn ist am Mittwoch nichts mehr wert. Die Bürger reden vom Staate, der „nicht lebensfähig“ ist, die Mächte der Erde sprechen von Aufteilung. Die wenigen Erfolge des jungen Staates, die Volksabstimmung in Kärnten und die Landnahme des Burgenlandes, die von nichtsozialistischen Regiefungen erzielt wurden, ohne das ohnmächtige Land mit den Nachbarn zu verfeinden — zwei für jene Zeit geradezu ungeheure staatsmännische Leistungen —, scheinen vergeblich, wenn Österreichs Reststaat von der Landkarte verschwindet. „Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“

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Der Retter ist gekommen. Ihm war Österreich nacht nur lebensfähig, ihm war unser Land des Erhaltens wert. Auf der Tribüne des Völkerbundpalais in Genf stand Österreichs Sprecher nicht im Frack des Diplomaten, sondern im schmucklosen Schwarz des katholischen Priesters. Und er rüttelte das Weltgewissen, das so gerne schlummert, wenn es wachen sollte, auf. Diesmal muß er, der stundenlang reden kann, ohne auch nur einen Satz aufgeschrieben

Bewachte Bank: Vom Bankrotteur zum beliebten Schuldner.. .

Photo: Archiv zu haben, der aus Perioden, geschult an Demosthenes und Cicero, immer wieder den Ausweg findet, ohne sich zu versprechen, ein Konzept vorlegen. Wie er einmal erzählte, haben die Zensoren des Völkerbundes ihm einen einzigen Satz gestrichen; Seipei wunderte sich, daß nicht seine Kritik an den Friedensverträgen das Mißfallen erregt hatte, sondern eine ihm nebensächlich scheinende Bemerkung, die von der Notwendigkeit sprach, die souveräne Allmacht der Staatsregierungen zu beschränken. Und ein andermal erfuhr ich von ihm, der französische Radikale Paul Boncour habe ihn beglückwünscht, daß er dem katholischen Priesterstande in der internationalen Politik so hohes Ansehen verschafft habe. Mit Ignaz Seipei wuchs sein Land, wuchs sein Stand.

Am 31. Mai hätte Österreich der 50. Wiederkehr des Tages gedenken können, da Seipei Bundeskanzler wurde. In seiner ersten Programmrede sagte er damals: „Selten ist nach einer Regierung so lange und so laut gerufen worden wie nach jener, die heute gewählt wurde, und zwar rief nach ihr fast ausschließlich die Partei, die allein für sie heute nicht mitwählte... Bei den meisten wird lediglich der Wunsch maßgebend gewesen sein, den Führer der Christlich-Sozialen Partei auf einem verlorenen Posten untergehen zu sehen...“ Und nun zeigte sich Seipei zum erstenmal als jener Meister der Selbstironie, mit der er sich so oft über Mißerfolge und schwere Krankheit hinweghalf, wenn er sagte: „Indem die Opposition so oft

— nun, ich will, da es sich um meine Person handelt, nicht gerade sagen

— den Teufel an die Wand malte, hat sie wohl dazu beigetragen, daß er nun wirklich kam.“

Die Antwort von links ließ jedes Gefühl für die kritische Lage, in der sich Staat und Volk befanden, vermissen. „Daß ein römischer Prälat Kanzler ist, ist die Schande unseres Bürgertums“, war noch eine der milderen Formulierungen der „Arbeiter-Zeitung“. Die Regierung aber ließ sich nicht beirren. Seipels erster Finanzminister, der aus dem niederösterreichischen Landesdienst kommende und zu Unrecht vergessene August Segur-Cabanac, legte einen Finanzplan vor, der in der Gründung einer Notenbank mit einem Aktienkapital von 100 Millionen Goldkronen, einzuzahlen in harter Währung, und einer inneren Anleihe gipfelte. Die Antwort war ein Eisenbahnerstreik und eine durch ihn ausgelöste Preis-Lohn-Spirale, die den Wert der Krone auf den Tiefstpunkt von 70 Schweizer Rappen je 100 Kronen senkte und die innere Anleihe ins Nichts zerrinnen ließ.

Während der sozialdemokratische Führer Dr. Otto Bauer forderte-, einen Betrag von 215 Millionen Goldkronen durch Zwangsdarlehen von Banken aufzubringen, gingen nicht einmal die von Segur geforderten 100 Millionen ein, da Anglo-bank und Länderbank ihre Zusagen, sich an der Aktienzeichnung für die Österreichische Nationalbank zu beteiligen, zurückzogen. Infolge des Friedensvertrages von St-Germain befand sich die Mehrheit der Anglo-bank-Aktien in englischer, die der Länderbank in französischer Hand. Auch ein zweiter Vorschlag Otto Bauers erwies sich als undurchführbar; als unverbesserlicher Anschlußpolitiker schlug er vor, die Krone an der Deutschen Mark zu fixieren; tatsächlich fiel in der Folge die deutsche Währung weit unter die österreichische. Aber auch Seipels und Segurs Plan vom Juni 1922, durch innere Maßnahmen den Staat vor der Katastrophe zu bewahren, war gescheitert.

Diese Feststellung ist aus zwei Gründen wichtig. Die Sozialdemokraten bestritten ein Jahrzehnt lang ihre Polemik mit der Beschuldigung, Seipei habe statt einer Rettung aus eigener Kraft den „Verkauf an das Ausland“ gewählt.

Noch schwerer wiegt die Anklage, die Gulick in einer einseitigen Darstellung „Österreich von Babsburg zu Hitler“ (Band I, Seite 228) erhebt. Danach habe Seipels Vorgänger in der Kanzlerschaft, der Wiener Polizeipräsident Dr. Hans Schober, schon im Mai 1922 von den Großmächten die Zusage der Kredithilfe erhalten, doch habe Seipei Schober gestürzt, um selber als Retter Österreichs dazustehen. Dieser Vorwurf geht auf einen Aufsatz im „österreichischen Volkswirt“ vom Jahre 1930 zurück; Schober selber hat nicht einmal in der Wahlwerbung vom (gleichen Jahre, als er gegen Seipei kandidierte, sich eines solchen Argumentes bedient. Die Ereignisse vom Sommer 1922 bewiesen, daß von einer großzügigen Auslandshilfe damals noch keine Rede war.

Im August 1922 erreichte das österreichische Drama seine Peripetie. Es war eine Situation wie 1918, 1938 oder 1945, als man heute nicht wissen konnte, in welchem Staate man morgen aufwachen würde. Bundespräsident Dr. Hainisch, dem die damalige Verfassung keinerlei staatspoliiäschen Rechte verlieh, richtete ein Verzweiflungstelegramm an König Georg V. von England. Premierminister Lloyd George übergab am 7. August dem österreichischen Gesandten in London eine Note, in der es hieß, die ausländischen Bankiers, die noch vor einem Jahre bereit waren, eine Anleihe zu bewilligen, erklärten dies jetzt für unmöglich, da große Zweifel an der Möglichkeit eines weiteren Bestehens des österreichischen Staates bestünden; sie verlangten für ihre Kredite die Garantie ihrer Regierungen.

Reisediplomatie Seipels

Dazu kam die äußerst gespannte weltpolitische Lage im Sommer 1922. Englands Schützlinge im Nahen Osten, die Griechen, wurden von Ismet Inönü aufs Haupt geschlagen. Die erste Massenvertreiibung begann. Von Frankreich gestützt, zerbrach Kemal Atatürk das Friedensdiktat. Unter dem geschickten Außenkommissar Tschitscherin begann die Sowjetunion, in die gute Gesellschaft der Mächte zurückzukehren. Was bedeutete in dieser Umstellung der durch die Friedensverträge geschaffenen Ordnung der Hilferuf der österreichischen Regierung, der es an einem besonders kritischen Augusttag um ganze 15 Millionen Pfund ging?

Seipei aber behielt die unerschütterliche Ruhe bei. Er fuhr nach Prag und deutete Benesch die Möglichkeit eines Beitrittes Österreichs zur Kleinen Entente an; eine verschleierte Wiederherstellung des alten Reiches aber war der Alptraum der tschechischen Staatsmänner, die lieber noch das gehaßte Österreich am Leben erhielten. In Berlin erfuhr Österreich von Reichskanzler Dr. Wirth, daß Deutschland, von den gleichen Sorgen geplagt, an einen Anschluß Österreichs nicht denken könne.

In Verona sprach Seipei mit dem italienischen Finanzminister Schanzer über eine Währungs- und Zollunion mit Italien, die dieses ebensowenig brauchen konnte wie Masaryk und Benesch eine neue Vereinigung mit Wien. Das Spiel mit mehreren Kugeln, nicht von Bismarck erfunden, gelang Seipei in meisterhafter Diplomatie.

Und so endete der August 1922, zu dessen Beginn Österreich den Mächten der Erde keinen Penny wert war, da man von Besetzung und Aufteilung sprach, mit einem politischen Wunder. Der Völkerbund schritt zu einer Tat, die unstreitig die größte Leistung während seines kurzen Bestandes war. Da der Völkerbund selber keine Mittel besaß, übernahmen Regierungen wohlhabender Staaten die Garantie für eine österreichische Anleihe im Betrage von 650 Millionen Goldkronen, die zur Stabilisierung der österreichischen Währung und zur Ingangsetzung der österreichischen Wirtschaft reichten. Den Großteil der Garantie stellten Großbritannien, Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei; kleinere Staaten schlössen sich an. Die USA gehörten dem Völkerbund nicht an, doch konnte ein wesentlicher Teil der Anleihe in Amerika aufgelegt werden; dieser Erfolg wog zur Zeit der amerikanischen Isolation nach Wilsons Abgang besonders schwer. Die Anleihen würden in wenigen Stunden voll gezeichnet; der Bankrotteur von gestern wurde über Nacht ein beliebter Schuldner. Die Entspannung der Nerven während des Septembers 1922, wie sie die politischen Akteure und die journalistischen Beobachter des österreichischen Dramas erlebten, ist durch keinen Vergleich aus jüngerer Zeit au verdeutlichen.

Rechte für die Regierung

Naturgemäß verlangten die Geldgeber ihre Sicherungen; geschenkt wird im Völkerleben nichts. So mußte Österreich am 4. Oktober 1922 die drei Genfer Protokolle unterzeichnen. Protokoll I wiederholte das Anschlußverbot des Artikels 88 des Vertrages von St-Germain; daß am 4. September 1931 einer der 15 Richter des Haager Internationalen Gerichtshofes der Meinung war, die unter der Regierung Ender angestrebte Zollunion mit dem Deutschen Reiche widerspreche zwar nicht dem Vertrag von St-Germain wohl aber dem Genfer Protokoll, war nicht vorauszusehen (sieben Richter sahen die Zollunion nach Genf und St-Germain für erlaubt an, sieben Richter erklärten sie nach beiden Instrumenten für verboten; da die Zöllunion bereits auf politischer Ebene gescheitert war, ist der seinerzeit heftig geführte Streit, ob Seipei über den Friedensvertrag hinausging, zu einer völkerrechtlichen Doktorfrage geworden).

In Protokoll II übernahmen die Mächte die Garantie für die Anleihe, deren Verwendung ein vom Völkerbundrat eingesetzter Generalkommissär zu kontrollieren hatte. Daß zu diesem Amte nicht, wie befürchtet, ein Tscheche, sondern der Niederländer Dr. Zimmerman berufen wurde, war wieder ein Erfolg Seipels.

Tief in die Innenpolitik griff das Protokoll III ein, demzufolge die Bundesregierung vom Parlament die Vollmacht erhalten mußte, die nötigen Reformmaßnahmen im eigenen Wirkungskreise durchzuführen. Da eine solche Vollmacht der Zweidrittelmehrheit bedurfte, war die Zustimmung der Sozialdemokraten notwendig.

Diese stimmten, obwohl sie die Straße „gegen Seipelei und Genferei“ mobilisierten, für die Vollmachten; in den „Außerordentlichen Kabinettsrat“ konnten nämlich auch sie ihre Vertreter entsenden. Es wußte eben auch die Opposition, daß das Genfer Werk, das sie vor der Öffentlichkeit so wütend bekämpfte, dringendste Notwendigkeit war.

In, einem hat Seipei geirrt Er glaubte, die nächsten Wahlen (im Oktober 1923) müßten ihm eine überwältigende Mehrheit bringen. Er hatte den Wähler überschätzt. Ein Jahr später ging es um die kleinen Pensionen der abgebauten Beamten, um die beginnende Arbeitslosigkeit und vor allem um den Mieterschutz. Daß ein Jahr vorher das Bestehen des Staates in Frage gestellt war, ist bald vergessen worden.

Aber auch Seipels innenpolitische Gegner konnten nicht vergessen, daß eine Aufteilung Österreichs im Sommer 1922, zum Ende der staatlichen Existenz und 1945 möglicherweise zur Austreibung von Millionen Österreichern von ihrem ererbten Boden geführt hätte.

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