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Das zweite Leben

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Am dritten Tage schrie er so lange, bis auch der letzte Keuchlaut seinen Ton verlor. Als er nur noch lautlos stöhnen konnte, befiel ihn ein unüberwindliches Aufstoßen. Der Schweiß trat aus allen Poren, und der längst leere Magen wollte sich förmlich nach außen stülpen. Sein Herzschlag flog, als wäre er den ganzen Berg herauf gerannt.

Er streckte im Kauern das gesunde Bein aus und tastete nach dem Ende der schmalen Höhle. Es herrschte völlige Finsternis — drei Tage schon, seit er aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht war. Er schloß die Augen. Wenn ihn doch das Aufstoßen verlassen wollte, das hart, regelmäßig wie ein Uhrpendel, seinen Magen zusammen- krampfte!

Verrückt — wenn er nur verrückt werden könnte! Doch immer heller wurde sein Bewußt-

sein, daß er jetzt Dinge und Vorgänge durchschaute, an denen er bis vor drei Tagen ahnungslos vorübergegangen war. Seit die Finsternis über ihm zusammengeschlagen war, sah er sein ganzes Leben wie in einem gnadenlos scharfen Spiegel.

Durst dörrte seinen Gaumen aus. Keuchend wandte er sich um, stützte sich auf sein gesundes Knie und leckte mit der Zunge über die feuchte Felswand. Einen Tropfen Wasser, nur einen einzigen!

Nur die Luft versiegte nicht. Von irgendwoher erneuerte sie sich. Zuweilen rieselte Geröll herab. Er hatte sich vor diesem an den äußersten Rand seines Gefängnisses zurückgezogen.

Er tastete nach der Uhr. Es fehlte das Glas; an den Zeigern konnte er fühlen, wie spät es war. Sechs Uhr abends. Nun war die Sonne schon unter das Brandhorn hinabgesunken. „Die Täler füllte der lautlose Strom der Schatten, die Felshäupter der Gebirge lauschten dem Knistern der Sterne.“ Irgendwo hatte er es so gelesen.

Vielleicht bewahrte ihn die tik-

kende Uhr davor, das bißchen Leben noch immer zu verteidigen. Sie war wie ein zweites lebendes Wesen, von dem ein ungeahnter Trost ausging. Die Uhr besaß kein Leuchtzifferblatt. Sie tickte, tickte, tickte — doch die Stunden hatte sie ihm in der Finsternis nicht mitgeteilt. Er hatte sich die Fingernägel wundgezerrt, um das Glas zu entfernen. Als alles erfolglos blieb, biß er mit den Zähnen zu. Die Splitter zerschnitten ihm die Zunge, doch nun konnte er mit den Fingern an den Zeigern die Zeit abzählen.

Er schloß die Augen und sah zum hundertsten Male wieder alles vor sich: Wie er im Höhlenklub angedeutet hatte, daß er am Sonntag ein paar simple Begehungen im Höhlensystem des Brandhorns machen wollte. Nein, ganz ohne .Begleiter. Er nahm doch die Sicherungsgeräte mit. Auf der Fahrt ins Gebirge aber hatte ihn plötzlich die Lust befallen, auf der Kahlen Wand jenseits des Flusses einer früheren Entdeckung nachzuspüren. Es gab dort am Rande des Almbodens einige Klüfte, von denen noch keiner wußte. Diesmal konnte ihn niemand beobachten; das Almvieh war bereits im Tal. Er hatte die Kluft unter Kie- ferngestrüpp gefunden. Während er dann hingekniet war und das Höhlengerät — Seil, Hämmer, Lampe — neben sich ausgebreitet hatte, war er durchgebrochen.

Als er nach dem Sturz erwacht war, lag er von Geröll halb zugeschüttet in einer Kluft. Die Einbruchstelle hatte sich mit nachsinkenden Rasenklumpen wieder dicht geschlossen. Ein Stein hatte die linke Kniescheibe zerschmettert. Unter ihm verengte sich die Kluft — irgendwo dort unten steckte sein Höhlengerät.

Drei Tage. Die Kameraden suchten längst nach ihm — drüben in dem Höhlenlabyrinth des Brandhorn. Vielleicht suchten sie noch einige Tage lang, dann gaben sie auf.

„Ich will nicht“, wollte er schreien. Seine gereizten Stimmbänder gaben keinen lauten Ton. „Ich will nicht aufgeben“, flüsterte er. Er preßte die Augen zu. Und siehe da: er konnte weinen. Tränen liefen über seine Wangen. Er schob die Unterlippe vor, und sie befeuchteten den Gaumen salzig. Wozu doch Tränen gut sein konnten.

Natürlich gab er nicht auf - wer tat das mit fünfundzwanzig Jahren? Aber die Finsternis nahm ihm alle Zuversicht. Er schloß die Augen. Der Durst hielt ihn wach. Er versuchte wieder, feuchte Erde in dep Mund zu nehmen und daran zu kauen. Nur schlucken durfte er nichts davon. Nicht schlucken!

Am vierten Tag überfiel ihn ungeheure Angst. Er verbot sich jedes Denken und zählte Steinchen.

Am fünften Tag bog er verbissen sein steifes Knie so lange hin und her, bis wieder Blut aus der Wunde sickerte. Anna würde die Hände zusammenschlagen — sie ertrug kein Blut. Oder gar Jane? Warum fiel ihm diese jetzt ein? Er sah sogar ihre Tränen, als sie ihm damals nachgerannt war— bis sie erkannt hatte, daß es zwischen ihnen beiden auf jeden Fall vorbei war.

Er zählte Steinchen um Steinchen — und spürte dann plötzlich die Frage: Was kommt nach dem Tod? Als Kind hatte ihn die Katechismusfrage lange beschäftigt: Wie heißen die vier letzten Dinge? Er wußte noch die Antwort: Der Tod, das Gericht, der Himmel, die Hölle.

Er hielt mit dem Zählen der Steinchen ein. Einmal mußte er alles zu Ende denken. Der Tod: das Aufhören einiger Körperfunktionen. Das Gericht — konnte nachher noch jemand über ihn Gericht halten? Einerlei, lassen wir das einmal offen. Was aber fände er an mir? Kein Mord, kein Raub — der Überfall auf Robert, den Tormann im gegnerischen Fußballklub, war allerdings damals ziemlich heimtückisch gewesen. Robert hatte seit dem Sturz vom Motorrad ein steifes Bein, aus war es mit dem Leben als Tormann.

Es mußte schon der sechste Tag angebrochen sein. Träumte oder wachte er? Jane stand vor ihm. „Weißt du noch, wie du es getrieben hast, bis du mich soweit hattest? Und dann auf einmal fandest du mich nicht mehr anziehend genug. Steh auf jetzt. Ich will dir wieder vertrauen“.

„Wirklich, Jane?“ Er wollte aufspringen. Da versagte auch das gesunde Bein. Er stützte sich auf die Arme, vergeblich — der Kopf sank auf den Boden. Er schrie nicht mehr, er lallte: „Hilfe, Hilfe!“

Die Zunge im Mund war nur noch ein Klumpen, die Finger scharrten über den Boden. Die Uhr - tickte sie noch? Er konnte den Arm nicht mehr heben.

Der Himmel — die Hölle - Ach,

Gott war nicht so unerbittlich: Einmal hatte er gehört, wer nicht vollkommen wurde in einem Leben, dem wurde ein zweites geschenkt. Ein zweites Leben. Mit der letzten Kraft seines entschwindenden Bewußtseins heftete er sich an diese Hoffnung. Jahre, Jahre weit, unendlich fern stand sein Leben. Allmählich, hinter dem Rauch der Jahre begann er sich selbst zu erkennen. Einmal mußte ein jeder hindurch.

Am siebten Tag entdeckte ein Jagdhund den eingesunkenen Erdschacht unterhalb der Kahlen Wand. Der Jäger vermutete unten ein großes Tier. Im Tal aber dachte man an den vermißten Höhlengänger. Eine Mannschaft stieg sogleich auf.

Als sie ihn auf dem Almboden labten, kam er wieder zu sich. Er sah um sich bekannte Gesichter. Seid ihr wieder da? Im zweiten Leben? Verschwommen ging ihm die Frage durch den Sinn.

Das verletzte Knie weckte ihn auf: der Schmerz. Er sah die fröhlichen, kühlen Augen der Freunde. Einer beugte sich über ihn. In diesem Augenblick begriff er alles. Er hatte dieses zweite Leben erhofft und jetzt war es da: eine Chance und ein Gewicht.

Die Freunde deuteten sein Entsetzen falsch.

„Die Nacht dort unten ist vorbei. Was schreckt dich jetzt?“ Keiner verstand sein Stöhnen.

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