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DDR, bitte eintreten!

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acques Delors, der Präsident der EG-Kommission, sorgt wieder ein­mal für Aufregung in Wien. Falls gewünscht, könne die DDR als ein­ziges Land schon vor 1993 Mitglied der Gemeinschaft werden, ließ er den Bonner Außenminister Hans-Dietrich Genscher wissen.

Wo bleibt denn der Sturm der Entrüstung? fragte sogleich die „Presse". Der DDR öffnen sich die Türen und uns winkt man ab? Österreich würde doch „tausend­mal besser" in die EG passen als dieses Mitglied des Warschauer Paktes, meinte der entrüstete öster­reichische Patriot. Wir haben doch eine blühende Marktwirtschaft' vorzuweisen, eine funktionierende Demokratie... Was hat Ostberlin anzubieten? Doch nur Probleme: eine marode Wirtschaft, enorme Umweltschäden, eine zerrüttete Währung...

Was wird da gespielt? Absurdes Theater wie von Samuel Beckett? Vielleicht doch nicht. Denn die Regieanweisung steht in Fußnoten zum Textbuch. Dort kann man nachlesen, daß die DDR ohnehin schon eine Rolle reserviert bekam.

Tatsächlich steht in einem An­hang zum EWG-Vertrag von 1957, daß die Anwendung des Vertrags in Deutschland keine Änderung des bestehenden Systems des „inner­deutschen Handels" erfordert. Der BRD-DDR-Handel darf die Grund­sätze des Gemeinsamen Marktes nicht verletzen, gilt aber ausdrück­lich nicht als „Außenhandel". Die DDR gehört daher nicht zu den sogenannten Drittländern wie sonst alle anderen Nicht-Mitgliedstaaten. Außerdem hat vor Vertragsabschluß der deutsche Delegationsleiter ohne Widerspruch der Gründungspart­ner protokollieren lassen, daß im Falle der deutschen Wiedervereini­gung eine Überprüfung der Verträ­ge stattfinden kann. Grundlegende Veränderungen der Lage Deutsch­lands sollten neue Regelungen möglich machen. Das war die Bon­ner Idee, auch wenn das damals nicht so in den Vertragstext aufge­nommen wurde. Freilich hatte seinerzeit noch niemand eine Vorstel­lung davon, wie diese Veränderun­gen zustande kommen könnten und wie man darauf reagieren kann. Bonn wollte im Grunde die Hand­lungsfreiheit für eine gesamtdeut­sche Regierung gesichert wissen.

Aber dies alles erklärt das Signal von Delors noch nicht wirklich. Er kann kaum ernsthaft unterstellen, daß eine Aufnahme der DDR im Ruck-Zuck-Verfahren über die Bühne gebracht werden kann. Eine selbständig bleibende DDR müßte als Voll-Mitglied die EG-Verträge auch voll akzeptieren. Einschließ­lich die Pflicht, an einer gemeinsa-men Außenpolitik ebenso mitzu­wirken, wie an der „engeren Zu­sammenarbeit in Fragen der euro­päischen Sicherheit". Das schließt auch die Bindung an gemeinsame Standpunkte „etwa auf internatio­nalen Konferenzen" (wie beispiels­weise der KSZE) ein. Damit die Voraussetzungen hierfür gegeben wären, müßte schon allerlei passie­ren. Ob das mit dem geltenden völ­kerrechtlichen Status der DDR-Mitgliedschaft im Warschauer Pakt zu vereinbaren ist, läßt sich be­zweifeln. Da liegen Probleme, die sich wohl kaum von heute auf morgen bereinigen lassen.

Davon hat Delors allerdings nicht gesprochen. Wohl nicht nur, weil die volle Übernahme aller Vertrags­pflichten nach EG-Logik selbstver­ständlich ist. Offensichtlich hat er noch anderes im Sinn. Schließlich ist der EG-Chef ein politischer Voll­profi. Wie schon oft, weiß er auch hier, was seine Signale bewirken sollen.

Als Jean Monnet 1950 mit der Integrationspolitik begann, ging es ihm nicht nur um die „Europäische Idee", sondern um ganz handfeste Dinge. Die Amerikaner wollten Westdeutschland wiederbewaff­nen; es galt, die Bundesrepublik in ein übergreifendes System der Interessenverflechtung fest einzubin­den. Konrad Adenauer spielte mit, und seither wußten die Bonner Kanzler, nur wenn die wirtschaft­liche Macht und die vielleicht künf­tig wiederkehrende politische Dynamik der Deutschen in ein sol­ches Verbundsystem integriert wird, kann die alte Sorge vor dieser Dynamik ausgeräumt werden.

Um heute einen berühmten Aus­spruch Adenauers zu zitieren: „ Mei­ne Damen und Herren, die Situa­tion ist da!" Die Deutschen sehen die Chance der Einheit vor sich und denken sich in eine neue Zukunft hinein. Die Integrationseuropäer haben daher allen Grund, die Ein­bindung der Deutschen erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Als 1871 das „kleindeutsche" Po­tential zum Bismarck-Reich zusam­mengefaßt wurde, meinte der briti­sche Premier Benjamin Disraeli: „Wir stehen vor einer neuen Welt, das Gleichgewicht der Mächte ist völlig durcheinander" - und das in einer Lage Europas, die längst nicht so unübersichtlich war wie heute. Sollten die Deutschen tatsächlich ihre Länder und ihre Kräfte verei­nigen und sollte die EG-Verklam­merung ihre Bindekraft einbüßen, dann hätte der Westen weit mehr Anlaß zu Befürchtungen ä la Dis-reaeli als dieser damals.

Man weiß in Paris wie in Brüssel: Gelingt es nicht, alle Anziehungs­kraft der EG einzusetzen, damit die Deutschen bei der Stange bleiben -dann steht die Stabilität Europas auf dem Spiel und nicht der Bin­nenmarkt. Der war immer schon mehr als ein wirtschaftliches Pro­jekt, vor allem für Delors. Dieser hat die Integration schon immer politisch gesehen. So auch jetzt.

Der Wiener Beitrittsantrag ist keineswegs belanglos. Aber er ist keine Sache, mit der soviel euro­päisches Schicksal auf dem Spiel steht, wie mit der Option der Deut­schen. Jacques Delors denkt, was seinerzeit Erhard Busek plakatiert hat: „Das Wichtige zuerst!"

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien.

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