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Debatte und Abstimmung

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Wenn wir die verschiedenen Strukturmerkmale der österreichischen Abgeordneten Revue passieren lassen, so können wir als Beispiele zwei Idealtypen des Parlamentariers beschreiben, die beide zwar frei erfunden sind, aber nichtsdestoweniger die Realität des österreichischen Parlamentarismus vor der Jahrhundertwende bzw. zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts charakterisieren:

Der Abgeordnete X des Abgeordnetenhauses im österreichischen Reichsrat war zwar nicht direkt adliger Herkunft, aber Großvater und Vater, der dann auch geadelt worden war, hatten es insbesondere in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem beachtlichen industriellen Vermögen und auch zu einem Palais an der Ringstraße gebracht.

Da sein älterer Bruder die Geschäfte führte, hatte X Jus studiert und den Beruf des Anwalts ergriffen, allerdings brauchte er seinen Beruf nicht zum Lebensunterhalt.

Er engagierte sich in diversen Vereinen und Debattierklubs, und Politik interessierte ihn über die tägliche Lektüre der Zeitung hinaus. Als er auf Bitten seiner Freunde 1897 über die 3. Wählerkurie ins Abgeordnetenhaus einzog, schloß er sich einem Klub an.

Aber das hinderte ihn nicht daran, zu reden und abzustimmen, wie er es für richtig empfand.

Nach seiner Wiederwahl 1907, die er über den Gewinn eines Wahlkreises erzielt hatte, in dem seine Familie über nicht unbeträchtlichen Einfluß verfügte, ließ sein Interesse an der parlamentarischen Arbeit nach, zumal, wie er resignierend feststellte, letztlich doch Regierung und Kaiser mit Notverordnungen am völlig zersplitterten Parlament vorbeiregierten.

Als der Abgeordnete Y Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts ins Kabinett einzog, war er zwar erst Mitte vierzig, aber alles andere als ein unerfahrener Politiker. Sein Vater, Angestellter einer Wohnbaugenossenschaft, hatte ihm den Besuch des Gymnasiums und das Jusstudium in Wien ermöglicht. Daß er sich, entsprechend der Gesinnung des Elternhauses, in der Studentenorganisation der Partei an führender Stelle — betätigte, entsprach seiner Neigung.

Nach dem Studium wurde er auf Empfehlung Mitarbeiter einer Kammerorganisation, und nach einigen Jahren hatte er es zum Abteilungsleiter gebracht.

Sein ganzes Engagement galt aber natürlich der Sache der Partei, und so opferte er seine Freizeit, wurde erst Gemeinderat (noch als Kandidat für die Jugend), dann Stadtparteiobmann; nachdem er bereits einmal auf einem nicht ganz „aussichtslosen Platz" für den Nationalrat kandidiert hatte, gelangte er Mitte der siebziger Jahre ins Parlament, und da er das Vertrauen des Präsidenten einer mächtigen Interessenorganisation besaß, kam er nach zwei Legislaturperioden reger Ausschußtätigkeit in die Regierung.

In seinem Fachgebiet hatte er stets — auch im Sinne seiner Interessenorganisation — die Fraktionskollegen beraten und — wenn man es recht bedenkt - im Parlament eigentlich nie anders gestimmt als die anderen Abgeordneten seiner Partei.

Zum 100. Jahrestag des Parlamentsgebäudes hielt er im Auftrag der Regierung eine grundsätzliche Rede, in der er die Bedeutung des Parlamentarismus würdigte.

Aus „Parlamentarismus in Osterreich" von Rainer Nick und Anton Pelinka. Verlag Jugend und Volk, Wien-München, 1984.

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