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Digital In Arbeit

Defizit an Sozialpolitik

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Jahre rascher wirtschaftli-cher Strukturänderung ha-ben neue Problembereiche sozialer Benachteiligung erzeugt. Sie zu erkennen und korrigierend einzugreifen, ist ein Gebot der Stunde.

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Jahre rascher wirtschaftli-cher Strukturänderung ha-ben neue Problembereiche sozialer Benachteiligung erzeugt. Sie zu erkennen und korrigierend einzugreifen, ist ein Gebot der Stunde.

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Wer eine im Wirtschaftsprozeß benötigte Arbeitskraft anzubieten vermag, kann Nutzen aus dem Wettbewerb ziehen, wer dazu nicht imstande ist, gerät in Bedrängnis. Damit kommen rein wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten zur Geltung, die keinen sozialen Gesichtspunkten Rechnung tragen. Diese müssen durch staatliche Maßnahmen und das soziale Handeln eines jeden einzelnen verwirklicht werden.

Die Erfahrung der letzten Jahre hat ergeben, daß auch in Zeiten der Hochkonjunktur bestimmte Arbeit-nehmergruppen auf dem Arbeits-markt benachteiligt sind. Dies be-trifft vor allem ältere Personen, die ihren Posten verloren haben; die Altersgrenze in der Praxis der Neueinstellungen wird sehr niedrig angesetzt.

Daneben hat sich ein ganzer Komplex von weiteren Umständen ergeben, welche eine Diskri-minierung auf dem Arbeitsmarkt auslösten. Sie reichen von kör-perlichen oder geistigen Behinde-rungen bis zur Stigmatisierung jener, die mit dem Gesetz in Kon-flikt geraten sind. Die Ausbeutung von ausländischen Flüchtlingen wird zum Skandal. Allgemein be-kannt ist die unverändert schwere Diskriminierung der Frau am Ar-beitsplatz.

Neben den oft dargestellten, als gleichsam "typischen" Benach-teiligungssituationen ergeben sich immer wieder andere: Die gewal-tige, sich steigernde Dynamik in der Wirtschaftsentwicklung bedeutet oftmals den Niedergang ganzer Erwerbszweige. Getätigte Investitionen in Ausrüstung, Wis-sen, Schulung und Organisation werden obsolet. Dies bedeutet -wiederum besonders bei älteren Menschen, die sich nicht mehr umstellen können und denen nicht ein rechtlich stabiles Be-schäftigungsverhältnis einen Ver-bleib bis zur Pension sichert, oft-mals eine Gefährdung der Existenz, an welcher unsere Gesellschaft meist mit Kälte vorbeisieht.

Dieses mangelnde Bewältigen von Strukturveränderungen beginnt leider oft schon bei der Ausbildung. Fehleinschätzungen bei jungen Menschen, die durch unzureichende Berufsinformation, unwissende Eltern und überholtes Prestigeden-ken mit ausgelöst werden, führen nicht selten zu einer Ausbildung, die an den Bedürfnissen des Ar-beitsmarktes vorbeigeht. Die Ar-beitslosigkeit Jugendlicher ist zu einem erheblichen Teil auf Fehler bei der Wahl der Ausbildung zu-rückzuführen. Die so entstandenen Entmutigungen und Chancenbe-einträchtigungen bedeuten ein ern-stes soziales Problem.

Die Bedeutung des Leistungs-prinzips und die Schädlichkeit jeder Nivellierung steht heute außer Streit. Beträchtliche Unterschiede im Einkommen mit einem nicht akzeptablen Wohlstandsgefälle stellen aber nach wie vor ein zentrales Problem der Sozialpolitik dar. Besonders dort, wo Wirt-schaftszweige mit Produkten ohne Qualitätsvorteil der Konkurrenz von Niedriglohnländern ausgesetzt sind, müssen die Arbeitskosten niedrig gehalten werden. Soziale Ausgieichssysteme - wie vor allem in der Landwirtschaft -sind zwar vorhanden, wirken aber wie vieles in unserem System lük-kenhaft, oft auch kontraproduktiv.

Niedrige Arbeitnehmerein-kommen können freilich auch Folge eines echten und harten Wettbe-werbes, wie zum Beispiel im Han-del sein. Hier kommen die niedri-gen Lohnaufwendungen, welche von den Betroffenen zu Recht als unzumutbar empfunden werden, allerdings indirekt den Konsumen-ten, also der Allgemeinheit als wirt-schaftlicher Vorteil zugute. Den-noch muß gerade hier eine forcierte Einkommenspolitik, vor allem sei-tens der Interessenvertretungen ansetzen, die mit einer Herstellung gesunder Betriebsstrukturen und einer Forcierung der Rationalisie-rungsmöglichkeiten einherzugehen hat.

Wenn man die Schwachen oder Unterprivilegierten in unserer heutigen Sozialordnung sucht, handelt es sich keinesfalls mehr um "Klassen" im Sinne überholter Betrachtimgsweisen. Eine beträcht-liche Rolle spielt die Zugehörigkeit zu Gruppen mit fehlender politisch-organisatorischer Durchsetzungs-fähigkeit.

Oft übersehen, aber von sozial-politischer Bedeutung ist die Tat-sache, daß im Normalfall Wohlstand nur erreichbar ist, wenn in einem Haushalt mehrere Erwerbseinkommen bezogen werden. Unsere Sozialordnung, insbesondere die Steuergesetzgebung, hat sich leider auf diese Verdienstsituation eingestellt.

Mit dieser Tendenz, welche die Erwerbstätigkeit beider Ehepartner (Lebensgefährten) bewußt forciert, wurde neues Unrecht geschaffen. Die Entscheidung für eine kinderreiche Familie, deren Mutter als Hausfrau arbeitet, bleibt nur bei einem hohen Einkommen des Familienerhalters ohne negative Folgen. Mehrkinderfamilien, deren Ernährer ein Durchschnittsein-kommen bezieht, sind trotz Fami-lienbeihilfen eindeutig materieller Not ausgesetzt. Sie werden aber trotzdem zu fast gleich hohen Steu-erleistungen herangezogen. Die empfundene Notwendigkeit, nicht nur von einem "offiziellen" Erwerb leben zu müssen, hat zu einer gro-ßen Zahl von Nebenbeschäf-tigungen geführt. Dies ist in mehr-facher Hinsicht problematisch.

Handelt es sich um einen ord-nungsgemäß durchgeführten Zweitberuf, entsteht unzumutbarer Leistungsstreß und eine Aus-schaltung jener Schutzvorschriften, welche Überbeanspruchungen ver-meiden und ausreichende Erho-lungsmöglichkeiten sichern sollen. "Normal" Arbeitende genießen dagegen immer mehr Freizeit. Wird der Nebenerwerb außerhalb der ge-setzlichen Regelungen durchge-führt, ist Sozialschädlichkeit gege-ben. Der Solidaritätsgemeinschaft werden dringend benötigte Ab-gaben entzogen. Zu dieser Situation trägt die Starrheit unserer Berufs- und Gewerbeordnungen bei, welche auch eine durchaus wünschenswerte Verlagerung von Kleinarbeiten an sogenannte "Pfuscher" kriminalisiert.

An dieser Stelle stößt man auf einen prinzipiellen Mangel unseres Sozial- und Wirtschaftssystems. Die Ordnung der Berufe ist eine weitgehend schematisch-starre. Es wird davon ausgegangen, daß je-dermann in fest umrissene Typen einzuordnen ist: Fest angestellte, möglichst ganztägig beschäftigte Arbeitnehmer, die "in wirtschaft-licher und persönlicher Abhängig-keit" (Definition der Sozialversi-cherungsgesetze) tätig sind, Land-wirte, Gewerbetreibende und Frei-berufler sowie öffentlich Be-dienstete. Sie alle sind in dieser Umschreibung in Beruf s verbänden oder Kammern organisiert und die-sem Schema folgend werden die Rechte der Gruppen gestaltet. Immer häufiger werdende Misch-oder Übergangsformen werden von den Repräsentanten eines Systems, das durchaus als eines der "Zünfte" bezeichnet werden kann, prinzipiell scheel angesehen.

Damit soll das unentbehrliche Wirken der beruflichen Organisa-tionen nicht in Frage gestellt wer-den. Die Gestaltung der bisherigen Sozialpolitik durch die "klassi-schen" Interessenvertretungen hat aber verhindert, daß im Arbeits-verhältnis selbst prinzipielle Wei-terentwicklungen eingetreten sind.

Auszug aus "Aufruf zur Sozialreform" Eine kritische Analyse des Dr. Karl Kummer-Institutes.

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