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Degeneriert Folklore?

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Im Gegensatz zu Europa ist die lateinamerikanische Folklore fast ausschließlich durch ihre Herkunft — ob von Indios, Spaniern, Portugiesen oder Negern — und kaum durch die Landschaft bestimmt. Denn selbst wenn man Küstengebiete mit abgeschlossenen Bergtälern vergleicht, sind es die einzelnen Volksstämme und ihre Mischungen, die den Ausschlag geben. So sind es im Hochland von Peru die schwerblütigen Indios, die den eigenartigen Charakter ihrer Kunst prägen und in den Küstengebieten Brasiliens verleihen die leichtlebigen Neger dem Kunsthandwerk ihre strahlende Heiterkeit. Wie wenig Einfluß eigentlich der Landschaftscharakter hat, beweist der Norden Brasiliens, wo stets eine heiße Trockenheit das Leben mühsam gestaltet, ein karger, steiniger Boden wenig Ertrag gibt und bittere Armut herrscht, die stark negroide Bevölkerung aber eine Kunst mit viel Humor hervorbringt, während man in der gesamten indianischen Folklore des nahegelegenen Peru oder Boliviens Melancholie und oft bitteren Ernst nachfühlen kann.

Die Urbevölkerung in ganz Lateinamerika bestand vor der europäischen Kolonisierung fast ausschließlich aus verschiedenen Indianerstämmen auf den unterschiedlichsten Kulturstufen. Sie ist heute noch der fruchtbare Humus, auf dem die vielfältige Folklore des Kontinents wächst. 400 Jahre nach der Eroberung ist die unglaubliche Kreativität dieser alten Völker noch zu spüren. Mit Schaudern mir kann man an die Greueltaten europäischer Eroberer und an das Ausmerzen der vorgefundenen Kulturen denken. Doch sollte man anderseits die kulturellen Leistungen der Kirche und vor allem der Klöster, ganz besonders aber der Jesuiten, nicht vergessen noch vermindern. Sie waren es, die die alten Codices der Azteken, Mayas und Inkas sammelten und aufbewahrten. Wohin sie kamen, errichteten sie Schulen für Einheimische, ihr besonderes Augenmerk aber war auf die Kunst gerichtet. Ihre ersten Gründungen waren reine Kunst- und Musikschulen, um den ungeheuren Reichtum an Talenten, den sie vorfanden, nicht zu verschütten, sondern zu fördern und zu pflegen. Spanier, Flamen und selbst italienische Maler unterrichteten und leisteten in Mexico, Chile, Peru und Paraguay kulturerhaltende und weiterbildende Arbeit.

Die Feldzüge der Portugiesen, bei denen die Urbevölkerung Brasiliens so stark dezimiert wurde, läßt heute manche von einer totalen Ausrottung sprechen. Doch sollte eines bedacht werden: Obwohl die Eroberer unbestritten grausam waren, gab es gerade bei den Portugiesen niemals irgendeine Art von Rassendiskriminierung; daher ging in Brasilien die vollständige Verschmelzung zwischen Urbevölkerung und Kolonisten weitaus schneller vor sich als in anderen Gebieten. — Den indianischen Mutterboden kann man hier bis heute vor allem in der Keramik deutlich erkennen, deren Wurzeln eindeutig in -'er präkolumbianischen Zeit liegen. Die große Kunst der alten Indiostämme war Keramik. Überall dort, wo wir in Lateinamerika eine besondere Vorliebe für sie finden und wo gerar'a mit diesem Material immer neue Kreationen hervorgebracht werden, dort stoßen wir auf indianischen Urgrund.

Fast gleichzeitig mit der europäischen Kolonisierung kommen die ersten Neger an die Küsten Lateinamerikas. Sie vermischen sich bald mit den Einheimischen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dauert der Zustrom der afrikanischen Sklaven. Bei ihnen allerdings finden sich nirgends mehr alte Stammestraditionen, da die Stämme zerrissen wurden und ihre Zerstreuung in den ungeheuren Weiten der Küstenländer geradezu perfekt war. Selbst dort, wo es zu geschlossenen Negersiedlungen kam, entstand eine ganz neue Kunst ohne Tradition. Die Neger brachten Lebensfreude und Humor nach Lateinamerika und beschäftigten sich, im Gegensatz zu den Indianerstämmen, viel mit Holzschnitzereien.

Während die alten Indianerstämme nur rohe oder polierte terrakottafarbene und schwarze Keramik kannten, lernten sie in den Klöstern bald die Töpferscheibe und die Glasur kennen. Von nun an treten die matten, terrakottafarbe-nen und ganz helle, aber auch die bunten, zum Teil glasierten, nebeneinander auf, figurale Stücke werden heute gern mit bunten Ölfarben bemalt, das Leuchten ihrer Farben und ihre Buntheit bringen so richtig das Temperament ihrer Meister zur Geltung.

In verschiedener Stärke und Intensität dringt christlich-abendländisches Kulturgut ein und verschmilzt mit dem Vorhandenen zu ganz neuen Eigenarten. So löst etwa der spanische Stier in Peru das einheimische Lama ab und übernimmt alsbald dessen Rolle in der Mythologie. Bei Festen kommt sein heidnischer Charakter voll zur Geltung. Besonders schön kann man die bekränzten Stiere bei der Pucara-Keramik aus Santiago de Pupuja mit ihren eigenartigen Ornamenten sehen. Sie werden noch heute für Opferungen von Tran und öl bei den jährlichen Zeremonien für eine gute Ernte verwendet. Das Rind, hier vor allem der Stier, hat vielfach die Rolle der präkolumbianischen Lamas übernommen.

Die Nachbildungen von alten Kolonialkirchen mit ihren Türmen und Kuppeln in Terrakotta-Keramik holen sich die Touristen heute als Souvenirs, ihr Ursprung jedoch sind die alten Dachreiterfiguren. Man liebte es, auf Hausfirste Lamas, Stiere, Idolos und später auch Kirchen zu setzen. Diese Tradition setzt sich bis heute fort.

In Pernambuco bemalt man ganz bunt mit großer Freude und stellt mit Vorliebe die Figuren des Tanz-spieles: „O bumba meu boi“, dar. Die Figürchen sind gut beobachtet, wie sie heute leben: Ein Richter neben einem bloßfüßigen Viehhirten und ein negroider Laufbursche; alles mit viel Humor charakterisiert.

In Uruguay und Argentinien ist man auf seine weißen Vorfahren besonders stolz, von der Urbevölkerung ist aber auch kaum mehr etwas zu bemerken, während in Mexiko und Peru auf Azteken, Mayas und Inkas zurückgegriffen wird.

So hellhäutig sich uns heute die Argentinier präsentieren, so wenig ist doch das Gauchotum eine spanische Tradition. In den argentinischen Landstrichen lebten sehr hellhäutige Indianerstämme, die ungemein früh das Pferd von den Kolonisatoren übernommen haben. Sie wurden wegen ihrer Reiterkünste berühmt und wegen ihrer sturmartigen Uberfälle sehr gefürchtet. Sie sind es, die dem heutigen Gaucho ihre Eigenart vererbt haben.

In Ecuador dringt der spanische Einfluß vor allem bei den Stickereien, den so beliebten florälen Motiven durch, die indianische Urbevölkerung mit ihren geometrischen Arabesken scheint hier völlig überdeckt zu sein, so daß die Blumenmuster selbst von den alten Maskentänzern getragen werden. In Paraguay sind bei den Guarani die Nan-duh-Spitzen berühmt und volkstümlich geworden.

Ganz anders in Panama; hier zieht man bei den sogenannten „Molas“, den Blusen mit Alique-Arbeiten der Cuna-Indianer, figurale Zeichnungen vor. In Mexiko aber werden die „calaveras“ (Totenköpfe) mit bunten Wunderblumen und Paradiesvögeln bemalt. Hier verschmelzen am Allerseelentag religiöse mit spanischen und mit heidnisch-indianischen Elementen zu einem unglaublichen Formenreichtum.

„Wie weit der religiöse Faktor in der lateinamerikanischen Folklore noch lebendig wirkt, ist schwer zu sagen, ihre Wurzeln jedoch sind stark religiös bestimmt“, meint Frau Professor Becker-Donner, „heute sind die Volksfeste vielfach Formsache geworden; oft weiß man nicht mehr recht, worum es geht, aber man erfreut sich daran. Allmählich wird natürlich viel verändert.“

In der Volksmusik spielt die Frage der Herkunft eine bedeutende Rolle. Die Neger, die hauptsächlich im tropischen Küstengebiet leben, haben ein ganz neues Element in die Musik Lateinamerikas gebracht. Am reinsten findet sich die alte Tradition in den abgeschlossenen Tälern des Anden-Hochlandes. In Peru etwa nimmt neben den überlieferten indianischen Flöten die Harfe aus Europa einen festen Platz ein. In Venezuela liebt man besonders den Cuatro, eine Guitarrenart, die aus Spanien kommt, während in Nordbrasilien der Berimbau, der Musikbogen, zu gewissen Gelegenheiten geschlagen wird. Im allgemeinen sind in den indianisch bestimmten Gebieten Blasinstrumente beliebt, in Negergebieten haben die Schlagwerke große Bedeutung. Die Saiteninstrumente, die aus Spanien kommen, stehen heute neben der Flöte auf gleicher Stufe, oft aber bestimmen sie den Charakter der Musik, wie bei .den Mariachis in Mexiko. Die Marim-ba, eine Art Xylophon, ist in Guatemala und Nicaragua zum Volksinstrument geworden.

Uberlagert die amerikanische Zivilisation heute die heimische Folklore? Frau Dr. Becker-Donner meint: „Die Folklore degeneriert überall dort, wo die Leute nichts davon verstehen und wo sie von der Kommerzialisierung bedroht wird. Fremdenverkehr und Souvenirindu-strie soll es geben, doch dürfen diese Produkte nicht mit Volkskunst verwechselt werden! Man muß heute einsehen, daß man hochwertige Dinge in der Folkloristik auch nur zu einem angemessenen Preis bekommt. Die Kommerzialisierung darf sich da nicht kunststörend auswirken! Wir wollen mit unserer Ausstellung Lateinamerika klarmachen, daß es Schätze besitzt, die geschützt werden müssen, und daß sich die Mühe lohnt, volkskundliche Grundlagen zu erarbeiten.“

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