6849516-1976_40_08.jpg
Digital In Arbeit

Dem Leben mehr Sinn geben

19451960198020002020

In der hochentwickelten Industriegesellschaft leiden viele Menschen zunehmend unter Isolation, Angst und Überforderung. Extreme Zeichen dafür sind die Auflösung ehelicher, familiärer und nachbarschaftlicher Bindungen, die hohe Selbstmordrate, der Drogen- und Alkoholmißbrauch. Es scheint, daß solche Symptome nicht mehr allein aus der Persönlichkeit des einzelnen erklärbar sind, sondern daß unsere Gesellschaft selbst psychopathische Züge zeigt, die auf den einzelnen zurückwirken. Diese Symptome zu analysieren, war der Auftrag einer Tagung in Salzburg, auf der die Katholische Akademie in Bayern gemeinsam mit dem Katholischen Akademikerverband Österreichs die „Psychopathologie unserer Gesellschaft“ unter die Lupe nahmen.

19451960198020002020

In der hochentwickelten Industriegesellschaft leiden viele Menschen zunehmend unter Isolation, Angst und Überforderung. Extreme Zeichen dafür sind die Auflösung ehelicher, familiärer und nachbarschaftlicher Bindungen, die hohe Selbstmordrate, der Drogen- und Alkoholmißbrauch. Es scheint, daß solche Symptome nicht mehr allein aus der Persönlichkeit des einzelnen erklärbar sind, sondern daß unsere Gesellschaft selbst psychopathische Züge zeigt, die auf den einzelnen zurückwirken. Diese Symptome zu analysieren, war der Auftrag einer Tagung in Salzburg, auf der die Katholische Akademie in Bayern gemeinsam mit dem Katholischen Akademikerverband Österreichs die „Psychopathologie unserer Gesellschaft“ unter die Lupe nahmen.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Stabilität des Menschen unserer Zeit wird — statistisch gesehen — geringer. Seine Belastbarkeit nimmt ab. Die innere Leere nimmt zu, seelische Störungen mehren sich. Eine veränderte Grundstimmung weist auf Veränderungen im seelischen Untengrund hin. Geschwunden ist die leicht euphorische Stimmung, die weite Kreise der Bevölkerung bis vor kurzem beherrschte. Der Zukunftsoptimismus zerrinnt. Dafür entstanden Unsicherheit, Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit. Viele Menschen können Angst und Unruhe nur noch mühsam unterdrücken. Für den Psychotherapeuten reicht es nicht aus, den Stimmunigsumschwung ins Depressive allein mit äußeren Problemen erklären zu wollen. Drohende Arbeitslosigkeit und verringerte wirtschaftliche Zuwachsraten bringen nur das schon vordem gestörte innere Gleichgewicht vollends aus der Balance. Manche Anzeichen deuten bereits seit langem darauf hin, daß trotz relativer Stabilität im Verhalten der meisten Mensehen deren innere Stabilität albnimmt.

Seit geraumer Zeit steigt die Jugendkriminalität. Die weite Verbreitung der Drogenwelle macht die Anfälligkeit einer großen Zahl Jugendlicher sichtbar. Der Alkoholismus nimmt unter jungen Menschen noch mehr zu als bei Erwachsenen. Doktor Hans Heigert, Vorsitzender der Chefredaktion der „Süddeutschen Zeitung“, konnte in seinem Vortrag dieses Phänomen statistisch erhärten, indem er nachwies, daß der Alkoholkonsum von 2,7 Liter pro Kopf im Deutschen Reich 1920 auf 14,8 Liter in der BRD 1975 anstieg.

Es wäre unzulässig, wallte man jene Erscheinungsformen von Labilität nur Randgruppen Jugendlicher zuschieben. Sie zeigen vielmehr, nach dem Stuttgarter Psychotherapeuten Dr. Rudolf Affemann, in; verdeutlichter Form, daß bei sehr vielen jungen Leuten der seelische Unterbau noch weniger gefestigt ist, als dieser infolge der Entwicklungsjahre auoh in früheren Generationen der Fall war. Es wäre aber völlig verfehlt, nur in der jungen Generation Labilität von Persönlichkeit sehen 2u wollen. Sie stellt sich vielmehr als ein Problem der ganzen Gesellschaft dar. Auch bei Erwachsenen bemerken seit längerer Zeit Ärzte entsprechende Störungssymptome. In den letzten zehn Jahren — so führte Dr. Affemann aus — stieg die Menge der verbrauchten Psychodrogen enorm. Sehr viele Menschen versuchen mit Librium, Valium und anderen Tranquilizern ihre spürbare Unruhe, ihre übermäßige Angespannt-heit und ihre untergründige Angst zu überspielen. Für den Psychotherapeuten verbergen sich hinter all diesen Erscheinungen innere Leere, mangelnde Belastungsfähigkeit, herabgesetzte Stabilität der Persönlichkeit oder „Ich-Schwäche“, wie die Psychologie das nennt. Das andere Gesicht dieser „Ich-Schwäche“ ist „Du-Schwäche“. Je schwächer ein Mensch innerlicher ist, um so mehr muß er sich durch Verkapselung sichern, um so einsamer wird er.

Erwin Ringel, Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Wien, sprach in diesem Zusammenhang vom Übergang der individuellen Psychopathologie zur sozialen. Darunter versteht er den Vorgang, daß Symptome des einzelnen Neurotikers durch verschiedene Kanäle, die noch nicht richtig erforscht sind, einsickern in das allgemeine Verhalten.

Aus der Labilität vieler Einzelmenschen ergibt sich die Labilität der Gesellschaft. Infolge von „Ich-Schwäche“ und nachfolgender Verkapselung wird der moderne Mensch immer weniger bindungsfähig. Grobe Egoismen greifen um sich.'Schreitet dieser Prozeß fort und treten stärkere Belastungen hinzu, so ist der Bestand des Gemeinwesens gefährdet. Labilität von Einzelmensch und Gesellschaft schließt erhebliche politische Gefahren in sich. Die Zukunft dürfte noch größere Belastungen bringen, als die letzten zwei Jahrzehnte. Auf Grund des verringerten wirtschaftlichen Wachstums wird auch der Einkommenszuwachs für den einzelnen kleiner sein, als er gewohnt ist. Damit, so betonte Dr. Affemann, ist der vertraute Weg, abgenutzten Konsum durch noch mehr und durch noch teureren Konsum zu ersetzen, verbaut. Falls dem Menschen In der Zukunft die Kompensation auf diesem oder jenem Wege mißlingen sollte, wäre eine erhebliche Zunahme von Depressivität, Angst und Aggressivität die Folge.

Was kann geschehen, um diesen Gefahren zu begegnen? Die Antwort hierauf ergibt sich aus einer Analyse der Ursachen, die zur Labilisierung des modernen Menschen führen. Der Psychotherapeut Affemann erwähnte fünf:

•Früher verlieh ein festes Gefüge aus Rollen, Normen, Werten, religiösen Vorstellungen dem Einzelmenschen Festigkeit und regelte das Zusammenleben der Gemeinschaft. Heute löst die Pluralisierung unserer Gesellschaft dieses Band fortschreitend auf. Als Konsequenz ergibt sich: sowohl um des Einzelmenschen wie um der Gesellschaft willen müssen wir uns auf einen Grundstock von Normen und Werten einigen, die im Einzelleben, wie dm Leben der Gemeinschaft, verbindlichen Charakter annehmen.

•Weiters: In den hinter uns liegenden Jahrzehnten verlor die Familie viel von ihrer erziehenden Kraft. Die Veräußerlichung des Lebens durch den Total-Ausverkauf nicht nur materieller Werte prägt heute weithin die Familien. Die emotionale Verarmung der rational-technischen Welt-schlägt längst in der Familie durch. Sollen Mensch und Gesellschaft der Zukunft stabiler werden, ist Aufwertung der Familie vonnöten.

•Weitere Ursachen von Labilität liegen in der uns umgebenden Konsumgesellschaft. Infolge ständiger Bedürfnisstillung werden laufend Spannungen in Lust umgesetzt. Eine gewisse Menge von unbefriedigten Spannungen ist jedoch nötig, wenn die Entfaltung des Menschen vorangetrieben werden soll.

•In jüngerer Zeit trug auch der an einigen Stellen zu stark ausgebaute Sozialstaat dazu bei, daß weithin infantile Haltungen entstanden, die die Reifung zur Stabilität hemmen. Als Konsequenz ergibt sich, daß manches wieder mehr in die Verantwortung des Bürgers gelegt werden muß. Indem er mehr Eigenleistung erbringt, wächst auch er an dieser Leistung. Entscheidend wird freilich sein, ob es möglich ist, unserem Leben mehr Sinn zu geben. Wörtlich sagte Affemann: „Leben des Einzelmenschen ohne anderen Sinn als dem der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung läuft leer. Das Ich wird dabei brüchig. Eine Gesellschaft, die nicht mehr Sinn aufweist, als den des Produzierens um des Konsumierens willen, und den des Konsumierens um des Produzierens willen, läuft auf die Dauer gleichfalls leer.

Entscheidend wird sein, ob Wert-und Sinngebungen im Einzelmenschen, zwischen den Menschen und in der Gesellschaft neues Leben erzeugen, oder es durch Schaffung neuer Strukturen begünstigen.

Dr. Affemann gibt der Gesellschaft von heute dennoch eine Chance. Er sieht sie darin, daß die noch nicht erschlossenen Persönlichkeitspotentiale bei möglichst vielen Menschen entwickelt werden. Hier liegt die Stärke der westlichen Welt. Der Glaube an Kraft und Wirkung weniger oder gar vieler einzelner hat eine lange christliche Tradition. Jesus fing an mit einer Handvoll Menschen. Die Verheißungen der Bibel geben dem Christen, der zum Dienst in die Welt hineingeht, die Gewißheit, daß Gott hinter ihm steht. Gibt es eine größere Kraft als diese Rük-kenstärkung?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung