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Dem lieben Gott nachhelien…

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In der Geschichte jedes Volkes gibt es Episoden, die seinen Charakter in gleichsam konzentrierter Form zum Ausdruck bringen. Von einem solchen Vorfall berichtet Indro Montanelli, Italiens berühmtestes „böses Maul”, in einem Buch, das er vorsorglich nicht in seiner Muttersprache veröffentlichte: Nach der Landung alliierter Truppen an der sizilianischen Küste wollte ein englischer Offizier die Übergabe eines deutsch-italienischen Vorpostens besprechen. Der deutsche Korporal weigerte sich, den Feind zu empfangen; sein italienischer Kollege meinte hingegen, man müsse erst hören, was dieser zu sagen habe. Darauf erwiderte der Deutsche: „Wir haben den Befehl, zu kämpfen bis zum Tode.” Und der Italiener: „Ja, genau bis zum Tode, doch diesen ausgenommen.”

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In der Geschichte jedes Volkes gibt es Episoden, die seinen Charakter in gleichsam konzentrierter Form zum Ausdruck bringen. Von einem solchen Vorfall berichtet Indro Montanelli, Italiens berühmtestes „böses Maul”, in einem Buch, das er vorsorglich nicht in seiner Muttersprache veröffentlichte: Nach der Landung alliierter Truppen an der sizilianischen Küste wollte ein englischer Offizier die Übergabe eines deutsch-italienischen Vorpostens besprechen. Der deutsche Korporal weigerte sich, den Feind zu empfangen; sein italienischer Kollege meinte hingegen, man müsse erst hören, was dieser zu sagen habe. Darauf erwiderte der Deutsche: „Wir haben den Befehl, zu kämpfen bis zum Tode.” Und der Italiener: „Ja, genau bis zum Tode, doch diesen ausgenommen.”

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In den Städtekriegen der Renaissance entschied regelmäßig nicht die Bravour der Soldaten und Offiziere, sondern die strategische Position der betreffenden Einheiten. Der Feldherr, der auf dem höheren Hügel stand und länger als der Gegner warten konnte, gewann die Schlacht, bevor sie noch angefangen hatte. Man kämpfte schon damals bis zum Tode, doch diesen möglichst ausgenommen.

Nördlich der Alpen sieht man in solchen Vorkommnissen den Beweis für angebliche italienische Drückebergerei. Daß Italiener schlechte Krieger abgeben, ist in deutschen Augen ein Gemeinplatz. Übrigens auch im Blickwinkel der Amerikaner. Die Frage stellt sich aber, ob es niaht Situationen gibt, in denen sich die Italiener sehr gut schlagen, den Tod mit eimgeschlossen.

So schlecht sich die Italiener samt und sonders im Zweiten Weltkrieg geschlagen haben mögen, so gut haben sie anerkannterweise im ersten großen Völkerringen gekämpft. Schlecht ausgerüstet und noch schlechter bewaffnet, griffen sie zwischen Karstgebirge und Adria jaus oft verzweifelten Positionen die! durch deutsche Einheiten verstärk- Wh’öfeterTeichisch-Unigärlschöri: Truppen an. 600.000 Italiener sind zwischen 1915 und 1917 gefallen, oft mit „Viva dl Rė” auf den Lippen. Es war der Beweis eines nicht zu bestreitenden Mutes.

Wirkliche Bravour bewiesen auch zahlreiche Italiener nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1948, als es darum ging, sich durch die feindlichen Linien durchzusehlagen und die „Lieben zu Hause” zu erreichen. Die gleichen Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen Vit- torio Emanuele III. und Eisenhower mit Jubelgeschrei begrüßten, zögerten keinen Augenblick, ihr Leben für den „Amico”, den Kameraden, aufs Spiel zu setzen. So unsinnig es ihnen erschien, einen Krieg fortzusetzen, der bereits entschieden war, so sehr setzten sie sich für bedrohte, ihnen nahestehende Menschen ein. Der Heldenmut, den dem Führer ergebene deutsche Soldaten bis vor die Tore Berlins an den Tag legten, haben nicht wenige italienische Partisanen zur Rettung gefährdeter Freunde und Genossen bewiesen.

Wohlverstanden: ein so personengebundenes Verhalten ist alles andere als rundweg vorbildlich und vorteilhaft. Vielmehr schließt es große Risiken in sich. Wer in Italien ohne „Amici” und „Parenti” (Verwandte) ist, hat oft das Nachsehen. Besonders Ausländer werden leicht zur Zielscheibe italienischer Schlaumeierei. Es gilt nämlich zu beweisen, daß man als Italiener zwar ärmer, aber auch intelligenter ist als die Fremden.

Ein Blick auf die Straße zeigt dieselbe Tendenz mit aller wünschenswerten Deutlichkeit. In diesem Niemandsland der Anonymität zählt das Gesetz nur am Rande, etwa bei einem Unfall, wenn es gilt, die Rechtslage zu klären. Dabei erweist sich der Durchschnittsitaliener von einer Unkenntnis der Verkehrsvorschriften, die kaum ihresgleichen findet auf diesem Erdenrund. Alle wissen bestenfalls, daß solche Ord- nungsprinzipien höchstens der Theorie nach zutreffen.

Dieser Kampf aller gegen alle läßt gewöhnlich den Schnelleren, Rücksichtsloseren, nicht den sich vor- schriftsgamäß Verhaltenden gewinnen. Anderseits kann jeder Fußgänger durch sein Da zwischentreten den Verkehr zum Stillstand bringen. Dies geschieht auf sein Risiko hin, doch „vivere pericolosamente” (gefährlich Ibbeh) ‘Wär s’cHoft “‘vor’ ühd’ ist auch’ nach Mussolini der ungeschriebene Wahlspruch der Italiener.

Wer aber meint, bei solch haarsträubendem Gebaren aller Stra- ßenbenützer müsse es an allen Ecken Tote und Verletzte geben, sieht sich bei einem Blick auf die Verkehrsstatistik eines Besseren belehrt. Wenn 1972 die deutsche Bundesrepublik 18.000 Verkehrstote auswies, brachte es Italien bei einem ungefähr gleich großen Wagenpark und Benzinverbrauch auf 10.700 Opfer des Asphalts. Im Grunde genommen ist das Rätsel relativ hoher italienischer Verkehrssicherheit gar kein Rätsel, nur das Ergebnis eines jener Paradoxe, wie sie das menschliche Leben auch nördlich der Alpen prägen. Wo niemand sich auf nichts verlassen kann, müssen alle gut auf- passen,. um am Leben zu bleiben. Der große Vorteil dabei ist eine durch Unsicherheit erreichte relativ hohe Sffcherheit, das Ergebnis: ein Überleben der größtmöglichsten Zahl von Verkehrsteilnehmern bei allerdings erheblichem Blechschaden.

Das Seltsamste an dieser Sache: ein Lächeln, oder die verbindliche Geste durchs Wagenfenster genügen in Italien, um so manchen aufgeregten oder gar erbosten Verkehrsteilnehmer dm Nu zum verständnisvollstem und nachgiebigsten Menschen zu machen. Wo Nordländer an die Stirne klopfen, hupen oder sich anbrüllen, läßt der Italiener fünfe gerade sein und ist überzeugt, daß es sich gar nicht auszahlt, die Nerven noch mehr zu strapazieren, als es das moderne Leben ohnehin erfordert. Weisheit eines uralten Kulturvolkes, das viele Systeme kommen und gehen sah, immer weiter lebte und überlebte.

Dies ist vielleicht« der tiefste Grund, warum all das Gerede über Italiens Staatsfoänkrott und die permanente Krise seiner Regierung und Institutionen, neuerdings auch der Wirtschaft, nicht zu überzeugen vermag.

Eher hat man Grund, mit Heinrich Heine zu sagen: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.” Die Ubertüchtigkeit der Bundesrepuiblikamer, aber auch ihrer Brüder zwischen Elbe und Oder-Neiße, den fleißigsten ‘und bravsten unter allen Kommunisten, läßt zwar die Deutschen eine Weile lang die Schulden der andern begleichen, weckt aber früher oder später Revanchegefühle und das Bedürfnis, die Schuldner für ihre wirklichen oder vermeintlichen Fehler zur Rechenschaft zu ziehen. So gesehen, aus italienischem Blickwinkel, wären Bismarck und Hitler nur Handlanger von Kriegen gewesen, die von einem großen Teil des deutschen Volkes als Kreuzzüge und Strafexpeditionen begrüßt wurden.

Solch missionarisches Bedürfnis ist den Italienern, die jedem Sünder auf ein „scųsi” (Entschuldigen Sie, bitte!) hin . schnei- verzeihen, wesensfremd,sie zählen eben weniger’ Leistung und äußerer Fortschritt als Lebert und Lebenlassen. Weil dem so ist, zieht es so viele Außenseiter, Ausländer, Intellektuelle und Künstler, aber auch nicht wenige Verbrecher mit fast magischer Kraft nach Italien. Sie spüren, daß in dieserp Lande der Kanfonmitätsdruck erheblich geringer ist als sonstwo in Europa und da, wo andere schnellfertig urteilen und verurteilen, die Italiener wenigstens noch ein Stück weit großes Verständnis aufbringen.

Allerdings hat nach dem Krieg der Amerikanismus auch in Italien seine Spuren hinterlassen. Besonders in Norditalien. Doch auch hier trügt oft der Schein. Weniger als die Deutschen oder gar die Amerikaner haben sich die Italiener in den fünfziger und sechziger Jahren dem Fortschritt verschrieben, und wo wie .es getan haben, geschah es meist im Bewußtsein, daß die modernen Glücksgüter im Grunde genommen kaum zählen im Vergleich zu wirklichen Werten, wie Familie, Bambini, Amici und ein möglichst herzliches Verständnis mit den Nachbarn.

Der Amerikanismus hatte in Italien weder die Zeit noch die Anziehungskraft, die Menschen in perfekt funktionierende Leistungsatome mit immer höheren Ansprüchen zu verwandeln. Vieles ist von der alten Genügsamkeit übriggeblieben, was ihnen jetzt, da alle ihre Ansprüche zurückschrauben müssen, zugute kommt.

Jedermann bescheidet sich in seinem Rahmen. Wer Seinen Urlaub bisher an der teuren ligurischen Küste verbrachte, begibt sich jetzt an die preiswertere Adria. Wer sich keine Ferien mehr leisten kann, hält es wie jener Römer, der sagte: „In den Urlaub fahre ich nicht, im Urlaub bin ich ja.” Im stolzen Bewußtsein, ohnehin in der schönsten Stadt der Welt zu wohnen, kann es jemand wirklich zwölf Monate lang im Jahr hier aushalten.

Lange bevor die Fiat-Werke zu Kurzarbeit und Zwangsferien übergingen, kauften sich tausende Arbeitnehmer und Angestellte kleinere und größere Grundstücke, Häuschen, Häuser und ganze Palazzi im Piemont und an der ligurischen Küste, oder sie bauten sich eigenhändig eine notdürftige , Unterkunft£; Daß der •Spatz in der Hand besser ist als die Taube auf dem D&filVviät in Italien ein derartiger Gemeinplatz, daß es nicht einmal ein entsprechendes Sprichwort gibt. Wie das Auto für den Italiener weniger ein Beförderungsmittel als mobiles Haus, Intim- raum und gleichsam verlängerter Fuß ist und als solcher gehandhabt wird, so hat er zu den meisten Dingen einen lebensnahen und direkten Bezug. Er will gar nicht in die Feme schweifen, weil das Gute sehr nahe liegt. Unter solchen Vorzeichen kannte er die Grenzen des Wachstums lange, bevor fortschrittbesessene Nordländer und Amerikaner jäh aus einem schönen Traum voller falscher Leitbilder erwachten.

Wo die Uberlebenskunst so vielen Menschen im Blute liegt, darf man nicht erstaunen, wenn diese den düstersten Aussichten zum Trotz kaum je verzagen, einen ungeheuren Lebensmut, ja Vitalismus an den Tag legen, der leicht in unverwüstlichen Optimismus umschlägt. Kein Wunder auch, wenn an der Spitze dieses Staates Männer stehen, die es meisterhaft verstehen, alle Trümpfe auszuspielen, um andere ziu bewegen, dem bedrängten Land unter die Arme zu greifen. Und wo sämtliche Stricke der In’teressensverbunden-

heit und des Solidaritätsanspruches reißen, kann man an das Gewissen der Menschen, Christen und Erdenbürger pochen.

Seriöse Menschen regen sich auf über dieses Schlaumeiervolk, das immer wieder auf die Füße fällt. Und nicht wenige beneiden es, wenn sie spüren, daß die Italiener irgendwie die Lieblingskinder des lieben Gottes sind. Daß sie nicht nur seinem Stellvertreter, sondern Gott selbst nahestehen, davon sind nämlich die Italiener felsenfest überzeugt. Die Gewißheit, daß der einzige, der sich nach der Apokalypse auf dem Mond in Sicherheit bringen wird, italienischer Staatsangehörigkeit ist, erhöht die Überlebensohancen dieser Menschen, die spüren, daß, wer sich selbst aufgibt, schon vor der Belastungsprobe verloren ist Für alles gibt es eine Lösung: Das sagen die Amerikaner, danach leben die Italiener.

Kein Wunder also, wenn die Italiener die Flinte nicht ins Kom werfen und sich außerordentlich an- strengen, die sie heimsuchende Krise möglichst bald zu überwinden. Die staatliche,,. Elektrizitälsgesellsclxafk

ENEL hat Milliarden investiert, um nördlich und südlich von Rom, besonders in Lardarello, Torre Alfina und Cesano auf einer Tiefe von 200 bis 350 Meter unter der Erdoberfläche geothermische Energiequellen zu erschließen. Die Ergebnisse sind vielversprechend. Vorderhand werden zwar erst 2,6 Prozent des Energiebedarfs gedeckt. Doch die Zeiten, da die Dreimillionenstadt Rom damit versorgt werden kann, sind absehbar geworden.

In der Poebene sind neue beträchtliche Metanvorkommen entdeckt und der Öffentlichkeit mit großem Tamtam bekannt gegeben worden. Böse Zungen behaupten, Rom habe schon längst von den großen Schätzen in Norditalien gewußt, das Geheimnis aber erst preisgegeben, als sich damit ausländisches Kapital herausschlagen ließ. Tatsächlich fanden sich die Bundesrepublik, die EWG und die Weltbank plötzlich bereit, Italien mit gewichtigen Darlehen abermals zu retten. So helfen die Italiener dem lieben Gott nach, wo er seinen Lieblirtgskindem die Schätze in ihrem Untergrund nicht gleich auf dem Senderbrett präsentiert.

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