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Dem Tod entgegen

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Der Tod ist die logische Folge der Geburt, die unausweichliche. Es gibt kein Erdenleben ohne Tod. Umgekehrt, es gibt keinen Tod ohne Erdenleben. Auf unserem Planeten würde das Fehlen des Todes die Existenzbedingungen unvorstellbar verändern. Vor allem würde es keine körperliche Liebe geben, da die Natur keine Veranlassung mehr hätte, um die Erhaltung der Art besorgt zu sein. So ist es denn durchaus folgerichtig, wenn über das Geschlecht der unsterblichen Engel gestritten wird. Es geht nicht darum, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts sind — sie haben keines, denn sie brauchen es nicht. Sie sind unsterblich.

Wozu aber sollen wir bei unserem Handeln an den Tod denken? Es könnte doch sein und kommt auch wohl öfter als man meint vor, daß ein Materialist, der weder an Gott, noch an ein Jenseits, noch an ein Fortleben nach dem Tode glaubt, das „Jedermann- Wort“ „Hier wird nur einmal gelebt“ ganz anders deutet, als es der Dichter Hugo von Hofmannsthal gemeint hat. Eine Einstellung, die der Jaromir in der Urfassung von Grillparzers „Ahnfrau“ folgendermaßen formuliert:

„Nichts ist wahr, als der Genuß … / hier auf Erden ist der Himmel, ist / doch auch die Hölle hier. Wer fragt / nach der Seele Mängel? Sicher, ist / mir nur der Leib!“

Ein Passus, der in den späteren Ausgaben des Stückes eleminiert ist. Jaromir aber begeht, ohne Reue zu fühlen, Vatermord, und ist im Begriffe, einen Inzest zu begehen. Gleichwohl läßt Grillparzer, als der Hauptmann vorstürzt und angesichts der Leichen von Jaromir und Bertha ausruft: „Schon zur Hölle?“, den alten Kastellan antworten: „Schon bei Gott!“

Die Überzeugung, daß es mit dem Tod zu Ende ist, kann zum rücksichtslosen Ausleben der eigenen Egoismen, zu gewissenloser Grausamkeit bis zur blutigen Tyrannis führen. Doch es gibt da das Wort: „Entrabit ut vulpis, regnabit ut leo, morietur ut canis — Er wird kommen wie ein Fuchs, herrschen wie ein Löwe und sterben wie ein Hund!“ In der jüngsten Vergangenheit hat sich der Spruch jedenfalls bewahrheitet, an Hitler, an Mussolini, so weit man ahnen kann an Stalin, freilich auch an Tito. Allerdings sind Menschen auch wie Hunde gestorben, ohne vorher wie Löwen geherrscht zu haben. Was wissen wir? Wir wollen nicht aus der Art des Todes auf die Art des Lebens eines Menschen schließen. Es gibt ja auch Märtyrer.

Nun gibt es sicher atheistische Materialisten, deren Handeln ethisch bestimmt ist. Sie sind im Grunde zunächst egoistisch-hedonistisch motiviert. Sie setzen sich für eine Welt der Güte, der Freiheit und der Gerechtigkeit ein, damit auch ihnen mit allen anderen Güte und Gerechtigkeit widerfahre und Freiheit zuteil werde. Doch sie können schwer hoffen, daß sie selbst das alles noch erleben werden. Sie arbeiten also für die Zukunft, die Kinder und Kindeskinder, für die Nachfahren. Wozu? Was haben sie davon? Dieser Wille zum Wirken über den eigenen Tod hinaus ist, neiner Ansicht nach, eine Evolution zu einem ethischen Wert, der sich platt materialistisch kaum erklären läßt, auch nicht durch eine Sublimierung von Trieben.

Woher kommt die Evolution, woher kommen die Gesetze der Entwicklung? Entweder gibt es sie, und sie spiegeln sich in unserem Bewußtsein, oder unser Bewußtsein projiziert sie in die Materie — gleichviel: woher kommen sie? Die Urkatastrophe, der Urknall oder der Riß in der Materie sind für mich keine Erklärung. Woher das alles?

Was die Evolution zum ethischen Wert betrifft, so finde ich bei Grillparzer eine interessante Auffassung: „Könnte es denn nicht eine Unsterblichkeit geben für diejenigen, die den höheren Teil ihres Wesens ausgebildet haben bis zur Geistigkeit, indes die anderen rohen Körper sterblich wären. Die Unsterblichkeit wäre der Lohn, die eigentliche Seligkeit der Auserwählten.“

Eine „elitäre“ Auffassung gewiß, vielleicht eine hochmütige, eine von menschlichen Wertvorstellungen bestimmte. Was wissen wir, was gewissermaßen Gott wohlgefälliger ist? Wie immer auch: Diese Auffassung postuliert den Willen zur Ethik, und dann ist sie nicht mehr elitär noqh hochmütig.

Über Tod und Jenseits und Unsterblichkeit hat sich Goethe wiederholt geäußert. Den alten Faust läßt er sagen: „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt, / der Mensch stehe fest und sehe hier sich um, / dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.“ In dem Moment aber, wo er tot ist, kommen die Engel, um, wie es wörtlich heißt, „Faustens Unsterbliches“ zu entführen durch jenseitige Sphären, wenn auch nicht ganz zu Gott. Hier decken sich irgendwie Goethe und Luigi Pirandello, der in seinem nachgelassenen Romanfragment „Informationen über meinen unfreiwilligen Aufenthalt auf der Erde“ meint, er werde nicht gleich zu Gott kommen, sondern vorerst durch andere Planeten wandern, dort aber werde man ihn, wenn er über die Erde berichten will, nicht verstehen, weil die herrschenden Begriffe, erdbedingt, außerhalb der Erdensphäre unverständlich werden.

Um aber zu Goethe zurückzukommen. Zu Eckermann sagt er:

„Wenn einer fünfundsiebenzig Jahre alt ist… kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.“

Wenn Goethe auch von der Unzerstörbarkeit unseres Geistes überzeugt ist, so läßt er doch die Frage offen, ob der fortbestehende Geist mit dem Bewußtsein einer persönlichen Individualität verbunden bleiben wird. Zwar dichtet er, höchstes Glück der Erdenkinder sei doch die Persönlichkeit — aber eben der Erdenkinder.

Mit der Frage einer Nachexistenz nach dem Tode ist immer wieder die Frage einer Praeexistenz, einer vorgeburtlichen Existenz verbunden worden. Hofmannsthal spricht gerne von der Praeexistenz, und sein Bewunderer, Rudolf Borchardt, postuliert mit aller Entschiedenheit in seinem Essay über das „Geheimnis der Poesie“, der Dichter trete vorbefruchtet in die Welt, er antizipiere die Welt. Und Pirandello schreibt in seinem schon erwähnten Romanfragment, er sei auf die Welt „herabgefallen“, „ich weiß nicht woher, noch wie, noch warum“.

Ohne die Qualifikation für mich in Anspruch zu nehmen, die Borchardt dem Dichter zuschreibt, möchte ich in diesem Zusammenhang ein kleines persönliches Erlebnis erwähnen. Ich erinnere mich, wie sehr es meinen Vater amüsierte, als ich, drei- oder vierjährig, steif und fest behauptete, ich könne mich an die Zeit vor meiner Geburt erinnern. Heute weiß ich, daß meine damalige Behauptung gar nicht so dumm oder abwegig war.

Es ist ganz außer Frage, daß Erinnerungen an die vorgeburtliche, nämlich die intrauterine Existenz fortbestehen. Der Psychoanalytiker Otto Rank führt in seiner Abhandlung über das „Trauma der

Geburt“ zum Beispiel die Musik auf den Herzschlag und auf sonstige rhythmische Erlebnisse im Mutterleib zurück. Wie weit das auch auf die moderne Musik zutrifft, weiß ich nicht. Es ist auch nur eine Spekulation, ob die vorgeburtlichen Erinnerungen über die intrauterine Existenz hinaus noch weiter zurückreichen, in eine Zeit vor der Befruchtung. Ich will Spekulationen dieser Art nicht weiter verfolgen.

Klar aber erscheint mir eines: Der Tod ist nicht nur das größte Geheimnis des Lebens, sondern ohne Tod gibt es, wie ich schon gesagt habe, kein Leben. Durch ihn wird das Leben selbst zum großen Geheimnis. Kurz, der Tod ist eine Angelegenheit der Lebenden. Das heißt, meiner Meinung nach, nichts anderes, als daß die Mahnung, die uns auf unseren letzten Wanderungen entgegentönt, in Wahrheit bedeutet: „Denk an das

Leben“. Denk an dieses: „Und so lang du das nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde!“ Ich glaube nicht, daß Goethe nur um des Reimes willen gedichtet hat: Stirb und Werde, und nicht, Werde und Stirb. Werde! durch die Tatsache, daß es den Tod gibt. Das scheint mir der eigentliche Sinn des „Memento mori“ zu sein.

Ich möchte noch auf eine Frage eingehen, auf die ich bereits eingangs hingewiesen habe, auf die Frage der Liebe. Gibt es nichtkörperliche Liebe? Gibt es eine Liebe, die sich von der körperlichen zu einer nichtkörperlichen wandelt? Jene Liebe, die die geschlechtslosen weil unsterblichen Engeln beseelte. Oder ist Liebe eine Kraft, die von Urbeginn an besteht und auch eine körperliche Form angenommen "hat?

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