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Demnächst: ein Schauprozeß

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Ein italienischer Geschäftsmann, der 'mit dem Transsibirischen Expreß von Moskau über Irkutsk nach Chabarowsk fuhr, berichtete kürzlich, daß er entlang der Eisenbahnstrecke zahlreiche Radaranlagen gesehen hat und in Chabarowsk alle Reisenden den Zug verlassen mußten. Den Raum Chabarowsk durfte man nur mit einem militärischen Passierschein betreten.

Ein britischer Universitätsprofessor, der kürzlich China besuchte, erzählte, daß die Schultaschen der kleinen Kinder mit chinesischen Soldaten bemalt sind, die auf dem Eis des Flusses Ussuri gegen die Rüssen gekämpft hatten. Er gelangte auch auf die Insel, wo chinesische und russische Patrouillen im März 1968 zweimal zusammenstießen. Die Insel heißt chinesisch Chenpao (Schatzinsel), russisch Damansky — sie1 befindet sich gegenwärtig in chinesischem Besitz.

„Wenn wir von den Sozial-Impe-ri allsten angegriffen werden“, sagte • dem Professor der Kommandeur der nordchinesischen Miliz, „dann begeben sie sich ins Meer des chine- | sischen Volkskrieges, aber dieses Meer wird sie mit seinen Wellen be- ; decken und ertränken.“ Die chinesischen Milizeinheiten sind ständig ■ in Alarmbereitschaft. Gemäß der Strategie Maos würden sie die russischen Truppen an gewissen Front- ■ abschnitten vorrücken lassen und sie tief aus chinesischem Territorium vernichten.

Der englische Experte Candlin schrieb in „Army Quarterly“: „Es besteht die Möglichkeit, daß die Sowjetunion im Sommer 1974 China angreifen werde. Darauf zeigt die Häufigkeit und die Intensität der Übungen, die auf beiden Seiten beobachtet werden können.“ Bekanntlich beurteilt auch Solschenizyn die Lage als besonders gefährlich. Der junge sowjetische Historiker Andrej Ämälfik hatin seinem Werk: „Wird die Sowjetunion 1984 überleben?“ geschrieben, daß China aus dem unvermeidlichen russisch-chinesischen Krieg als Sieger hervorgehen werde Und die UdSSR infolge der zemripe-• talen Kräfte der Nationalitäten auseinanderfallen Würde. Amalrik schmachtet mittlerweile schwer krank in einem Straflager des Gulag.

Vor ein paar Wochen überraschte ein Mitglied der chinesischen UN-Delegation in New York einen europäischen Diplomaten mit der folgenden Frage: „Was denken Sie, wann werden uns die Russen angreifen?“ Er war gar nicht darauf neugierig, ob die Russen China jemals angreifen würden; denn die Chinesen sind seit Jahren davon überzeugt, daß die UdSSR Chifta überrumpeln werde. Mao Tse-tungs Botschaft zu Neujahr 1974 an das Volk kulminierte im Aufruf: „Grabt tiefer! Reserviert Getreide und bereitet euch für den Krieg oder Naturkatastrophen vor!“ Unter Peking, Schanghai, Kanton, und anderen Großstädten haben die Chinesen ein gigantisches Schutz-rauinnetz ausgebaut; es wurden unterirdische Fabriken, Spitäler und Werkstätten eingerichtet.

Tschü En-lai sägte, daß die Atommauer China schützen werde: ,JDie neue Chinesische Mauer basiert auf den Atomzentren und sie ist eine symbolische Mauer, aber geeigneter zur Verteidigung als die Mauer vergangener Epochen. Die Kaiser haben die alte Mauer gegen die Mongolen erbaut. In der'modernen Zeit bietet eine Steinmauer keinen Schutz. Sogar eirte starke Festungskette kann mit motorisierten Kräften leicht umgegangen werden. Denken wir nur an .die Maginotlinie. Aber die Atommauer kann nicht so leicht durchbrochen werden!“ ■ Das sowjetische Politbüro hat in den vergangenen Jahren die chinesisch-russischen Probleme wieder- ■ holt analysiert — auch im Hinblic auf die Möglichkeiten eines militärischen Angriffs. Die Russen haben 45 Divisionen an die lange asiatische Grenze verlegt — wo früher nur 13 Divisionen lagen. Mindestens ebensoviele chinesische Divisionen sind aufmarschiert.

Die Chinesen nennen die Mitglieder des sowjetischen Politbüros ^.neue Zaren“ und verlangen nach wie vor einen Großteil der sibirischen Gebiete der UdSSR zurück. In den Jahren 1858 und 1860, als China sehr schwach war, hat der Zar mittels Friedensdiktaten diese Territorien erobert, vor allem große Teile von Kasachstan und Usbekistan. Im Neuen Chinesischen Atlas von 1972 figurieren diese Gebiete als „chinesische Territorien“, inklusive Taschkent und Alma-Ata, ja sogar Chabarowsk und Wladiwostok.

Chabarowsk ist derzeit das fernöstliche Militärzentrum der Sowjetarmee, die von den Chinesen mit dem uralten Namen Poli erwähnt wird. Wladiwostok ist die Hauptflottenbasis der sowjetischen Kriegsmarine im Stillen Ozean, die auf der chinesischen Landkarte den Namen Haisenwei trägt. Die Chinesen nennen den Amur-Fluß Hailigkiang. Mao beruft sich auch auf Lenin, wenn man die verlorenen sibirischen chinesischen Territorien zurückfordert; Lenin sagte nämlich 1920, daß die Sowjetunion den Nachbarländern alle Territorien zurückgeben werde, die von den Zaren mit imperialistischer Politik erobert worden waren.

Die chinesischen Führer haben einen russischen Blitzkrieg sechs Jahre lang als eine unmittelbare Gefahr angesehen. In den vergangenen drei Monaten machten sie jedoch Äußerungen, daß sich momentan Westeuropa in größerer Gefahr befände. Vor der Unterzeichnung des neuen NATO-Dokumentes sprachen die Chinesen so, als ob Moskau eher das schwache Westeuropa angreifen würde als China.

Nach elfmonatiger Pause hat die Sowjetregierung den Stellvertretenden Außenminister Iljitschew jetzt nach Peking entsandt, um die Verhandlungen über die Grenzrevision wiederaufzunehmen. Ein Hongkonger Redakteur charakterisierte die Situation folgendermaßen: „Beide Seiten bereiten den Krieg aktiv vor. indem beide Partner behaupten, daß es keine Kriegsgefahr gibt...“ Und weiter: „Es ist möglich, daß die Chinesen damit die Aufmerksamkeit der Westeuropäer auf die Wichtigkeit der Stärkung der Verteidigungsanstrengungen lenken wollen; es ist Chinas eminentes Interesse, daß Westeuropa größere Sowjetkrafte bindet. Und warum zeigen sich die Russen plötzlich so konziliant? Vielleicht haben sie so entschieden, daß sie den Tod des 80jährigen Mao abwarten, in der Hoffnung, daß sie vielleicht seine Nachfolger besser beeinflussen können. Vielleicht denken die Russen, daß sie mit Nachgiebigkeit die Beziehungen zu China normalisieren können. Dies wäre ein bedeutungsvoller Schachzug nach ihrer diplomatischen Niederlage in der- arabischen Welt. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß sie an der fernöstlichen Front eine Atmosphäre der Ruhe hervorrufen wollen, um leichter einen Blitzschlag gegen China führen zu können.“

Im Frühjahr 1968 befürchteten die Chinesen zum erstenmal einen Sowjetangriff. Es folgte die Verkündung der „Breschnew-Doktrin“ zwecks Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer sozialistischer Staaten. Die Chinesen betrachten diese Doktrin als eine ideologisch-politische Rechtfertigung eines geplanten antichinesischen Angriffs. Die Chinesen haben außerdem noch nicht vergessen, daß die Russen schon zwei sozialistische Länder, Ungarn (1956) und die CSSR (1968) mit ihren Panzern überrumpelt hatten.

Seitdem ist die Befestigung der Ostfront an beiden Seiten im Gange. Moskau ließ nebst 70 Flugplätzen eine moderne Kette von Befestigungen in Mittelasien, in der Äußeren Mongolei und im Fernen Osten errichten. Indessen haben die Chinesen ihre Atomeinrichtungen dezentralisiert und die Industriezentren in der Mandschurei und Singkiang disloziert. Viele Militärexperten erwarteten dann 1969 einen sowjetischen Atomangriff gegen China. Damals hätten die Russen mit einem Schlag das Miniaturatomdepot Chinas zerstören können. Die Chinesen traten 1964 in den Atomklub ein und seither haben sie 16 Atomsprengungen durchgeführt, die letzte gerade in den Tagen des Nixon-Breschnew-Treffens. Peking könnte Moskau und Leningrad mit seinen Atombomben aber noch nicht belegen, jedoch Wladiwostok; Irkutsk und Chabarowsk in Trümmerhaufen verwandeln. Die chinesische Atomzentrale in Lop-Nor soll für die Abwehr eines sowjetischen Nuklearangriffes gewappnet sein.

Sowjetdiplomaten und russische Journalisten wollen seither in Privatgesprächen herausfinden, wie die Vereinigten Staaten auf einen Sowjetangriff gegen China reagieren würden. Es sei möglich, daß der amerikanische Standpunkt die Russen entscheidend beeinflußt hat — weil Kissinger mitgeteüt hat, daß kein Sowjetargument für einen Angriff gegen China akzeptabel wäre. Ein chinesisch-russischer Krieg würde nämlich nicht nur eine Milliarde Menschen, sondern die ganze Menschheit gefährden. •

Seither wurde das amerikanischchinesische Verhältnis spektakulärverbessert, obwohl Amerika sich nicht verbürgt habe, im Falle eines Sowjetkrieges militärische Hilfe an Peking zu leisten. Es besteht aber die Wahrscheinlichkeit, daß die chinesische Militärführung alarmiert werden würde, falls das amerikanische Himmelskörpersystem russische Bewegungen beobachten würde, die auf einen unmittelbaren Angriff auf China hinweisen würden.

Das Sprachrohr Moskaus, der Journalist Victor Louis, der jährlich sechs Monate in London verbringt, schrieb kürzlich im „France Soir“, daß „keine Ruhe an der sowjetisch-chinesischen Grenze herrsche“ und daß dje Chinesen wahrscheinlich einen Schauprozeß vorbereiten. Die Chinesen haben nämlich im Februar d. J. das Personal eines Sowjethubschraubers, drei Personen, die auf chinesischem Boden gelandet waren, gefangengenommen. Sie werden der Spionage bezichtigt.

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