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Hugo Portisch: Demokratie als Kompaß

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De Gefahr nähert sich in verführerischen Kleidern.

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De Gefahr nähert sich in verführerischen Kleidern.

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Nicht Herr zu sein über sein eigenes Geschick, viele Freiheiten und zeitweise alle Freiheit eingebüßt zu haben, das ist ungeheuer bedrückend für jemanden, der dies an Hand von Dokumenten, Aussagen und Bildern nachvollzieht. So bedrückend, daß uns alle, die wir an dieser Fernsehreihe „Österreich II“ arbeiten, eine Frage überragend beschäftigt: Wie konnte es geschehen? Und - könnte es uns wieder passieren?

Denn so ist es nicht, wie wir es in vielen heutigen Filmen sehen und in vielen sehr guten Romanen lesen: daß die Gefahr erkennbar ist. Daß sie auf uns zukommt im schwarzen Gewände, mit Stiefeln an den Füßen und dem Totenkopf auf der Kappe. So kam sie nicht, so zeigte sie sich erst, als alles schon zu spät war.

Die Gefahr kommt in vielen Gewändern: in verführerischen, stolzen, schmeichelnden, historischen Gewändern, in scheinbar sogar logischen. Sie zu durchschauen, die Gefahr in ihnen zu erkennen, ist unendlich viel schwerer, als es im nachhinein den Anschein haben mag.

Also gibt es keinen Maßstab, an dem Ereignisse zu messen sind, die es ermöglichen, politische Vorgänge zu durchschauen, keinen Kompaß für ein Volk, den richtigen Kurs zu fahren?

Wir meinen schon …

Unser freiheitliches demokratisches Gesellschaftssystem basiert auf unverzichtbaren Werten und Voraussetzungen, auf unseren verfassungsmäßig garantierten Freiheiten und Rechten. Eine Verletzung dieser Werte und Grundsätze bedeutet bereits eine Verletzung der Grundrechte des einzelnen und eine Verletzung der Menschenrechte.

Aber gerade die Beschäftigung mit der jüngsten Geschichte unseres Landes zeigt uns, wie unendlich schwer es die Menschen damals hatten, zu erkennen, wann und wo die Grundwerte verletzt waren und ab wann man mit der Selbstunterjochung begann und sich der Unterjochung durch andere aussetzte.

Wir haben uns, weil wir in unserem Projekt „Österreich II“ auch einen Rückgriff auf die Erste Republik machen, damit befaßt, was da alles auf die Menschen der damaligen Zeit eingewirkt hat, was allem sie ausgesetzt waren.

In Zeitungen, die für politische Ideen standen, die sehr wohl Demokratie, Freiheit und Recht auf ihre Fahnen geschrieben hatten, ja sich sogar als Verteidiger dieser Werte sahen, finden wir fast auf jeder Seite Beweise vorherrschender Intoleranz.

Ein Bürger der damaligen Zeit hatte es äußerst schwer, danach zu fragen: Wer ist hier noch ein Vorbild? Wer ist hier noch intakt? Wer kann hier noch den Weg weisen? Wer ist integer?

Das war damals. Sind wir heute davor gefeit?

Politiker, Journalisten und Schriftsteller sind die Erzieher der Nation. Sie können auch ihre Verzieher sein - auch durch Unterlassung.

Die Demontage der Demokratie beginnt mit all den kleinen Konzessionen, die wir aus Bequemlichkeit, aus Opportunismus, aus Gewinnsucht nur allzu oft zulassen: das Nähren des Vorurteils, die Unterstellung, die Verdächtigung, mit denen Schadenfreude, Neid, Mißgunst, Aggressionslust befriedigt werden sollen.

Um nicht mißverstanden zu werden: Kritik ist die Essenz der Demokratie. Ich meine nur umgekehrt, daß sie ihre Durchschlagskraft verlieren, daß sie daher ihre Funktion eines Tages nicht mehr ausüben könnten, wenn die Träger dieser Funktion der Versuchung erliegen, Vorurteile zi nähren, Verdacht auszudrücken, wo dieser unberechtigt ist.

Denn wenn alle verdächtigt werden oder eine Gruppe von Menschen, weshalb soll es uns dann noch alarmieren, wenn ein einzelner den Verdacht tatsächlich rechtfertigt? Wenn alle unsauber sind und jedem alles zugemutet werden kann, weshalb soll es uns dann noch alarmieren, wenn einer unsauber ist? ...

Aber auch für die Beurteilung der Weltpolitik gilt der gleiche Maßstab, den wir im eigenen Land anzulegen haben. Wenn alle in der Welt gleich böse sind, dann verlieren wir die Orientierung. Wenn es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Demokratie und Diktatur, dann sind wir schon auf dem Wege, auch keinen Unterschied mehr zu erkennen zwischen Freiheit und Unfreiheit im eigenen Land.

Selbstverständlich begehen auch Demokratien Fehler, besonders, wenn sie Großmächte sind oder gar Supermächte! Selbstverständlich verletzen auch sie ihre eigenen Grundprinzipien, vergessen manchmal ihre eigenen Grundwerte.

Wenn sie das tun, so haben das in erster Linie ihre Freunde zu kritisieren, und zwar scharf und uneingeschränkt. Und sie können das tun in der Gewißheit, daß sie gehört werden - manchmal nicht gleich, manchmal nicht von der betreffenden Regierung - aber sie werden in einem demokratischen Staat von der dortigen öffentlichen Meinung gehört und zur Kenntnis genommen ...

Denn das ist das Wesen der Demokratie, daß sie Änderung zuläßt. Ja, die Fähigkeit zur Selbstkorrektur macht sie erst zur Demokratie.

Auszug aus der Rede, die der Autor bei Entgegennahme des Donauland-Sachbuchpreises am 8. November 1983 hielt.

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