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Demokratie mit Phantasie

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Zuletzt wurde die Wiener Stadtverfassung 1978 novelliert, mit direktdemokratischen Elementen angereichert. Die Wiener Volkspartei fordert noch mehr Bürgerrechte.

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Zuletzt wurde die Wiener Stadtverfassung 1978 novelliert, mit direktdemokratischen Elementen angereichert. Die Wiener Volkspartei fordert noch mehr Bürgerrechte.

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Bis vor wenigen Jahren war es ein geflügeltes Wort: Die Landesverfassungen der neun Bundesländer gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Darüber hinaus wurde den Landesverfassungsgesetzgebern Phantasielosigkeit vorgeworfen.

In den letzten Jahren aber ist das Verfassungsrecht der Bundesländer in Bewegung geraten. Der von Reinhard Rack 1982 her-

ausgegebene Band „Landesverfassungsreform“ informiert darüber durch viele Beiträge.

Eine „entfesselte Phantasie“ schließt freilich schon die Bundesverfassung aus. Die Länder haben in deren Rahmen und Schranken nur eine „relative Verfassungsautonomie“. In dieser Beschränkung müssen sie sich als Meister der Phantasie erweisen. Die Niederösterreichische und die Burgenländische Landesverfassung sind dafür Beispiele.

Die Wiener Stadtverfassung hat durch ihre letzte Novelle 1978 immerhin eine Entwicklung in Richtung des Ausbaues parlamentarischer, kontrollierender und direktdemokratischer Einrichtungen erfahren. Sie hat aber ihre jetzige Fassung durch nicht weniger als 15 Novellen, sieben sonstige Gesetze, zwei Wiederverlautbarungen und ein aufhebendes Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes — dies je in verschiedenen Zeiten — erhalten.

Im Wiener Bericht des genannten Sammelbandes heißt es dazu:

„Das Stammgesetz vom 10. November 1920 geht in seinen Formulierungen teilweise bis auf die Gemeindeordnung für die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien vom 20. März 1850 zurück. Diese Entwicklung hat zwangsläufig zur Folge, daß die Wiener Stadtverfassung eine uneinheitliche Gesetzessprache, . gewisse Sy stemschwächen und auch lückenhafte Regelungen aufweist. Insgesamt stellt sie einen inhomogenen, aus mehreren Rechtsschichten bestehenden Rechtsstoff dar.“

Abschließend wird ausgeführt:

„Im Hinblick auf die vorbeschriebene Situation der Wiener Stadtverfassung hat der Herr Landeshauptmann von Wien am 4. Februar 1980 dem Vorschlag des Herrn Landesamtsdirektors auf Einsetzung einer beamteten Kommission zugestimmt, deren Aufgabe es sein soll, eine Überarbeitung der Wiener Stadtverfassung vorzunehmen und einen entsprechenden Entwurf für die politische Ebene vorzubereiten. Aufgabe der Kommission, die die Bezeichnung Wiener Stadtverfassungskommission trägt, ist im wesentlichen die umfassende systematische Überarbeitung (Modernisierung) des Rechtsstoffes unter Wahrung der politischen Grundstruktur, jedoch mit Berücksichtigung der erforderlichen systematischen Fortentwicklung. Die Kommission hat bisher eine Iystempunktation einer neuen Verfassung fertiggestellt und arbeitet derzeit an der Feinformulierung des Textes.“

Eine aus Experten der Wiener Volkspartei bestehende Arbeitsgruppe (Robert Kauer, Karl Lengheimer und Bernhard Ra- schauer) hat noch vor den Gemeinderatswahlen 1983 neue Ideen zu einer neuen Verfassung der Öffentlichkeit präsentiert.

Es ist ein neuer Weg zu neuer Politik und zu vom Bürger gestalteten Umwelt- und Sozialbedingungen. Bürgerrechte und Bürgerpflichten, Bürgermitbestimmung und Bürgernähe markieren ihn.

Während die Wiener Stadtverfassung in der heutigen Fassung 144 Paragraphen umfaßt, soll der alternative Entwurf nur rund fünfzig Paragraphen umfassen und sich auf Wesentliches beschränken. Er muß freilich der

Landesgesetzgebung manches zur Ausführung überlassen.

Nach dem Motto: „Das Wichtigste zuerst“ werden „Die Bürger von Wien“ und „Besondere Bürgerrechte“ in den Vordergrund gestellt.

Die Wiener verpflichten sich und die Organe der Stadt Wien zum Geist der Solidarität und zur Lebensqualität, haben bestimmte Grundrechte und -pflichten, insbesondere im Hinblick auf die Sozial- und Umweltbedingungen; zum Wahlrecht kommen als besondere Bürgerrechte Informationsrechte, Auskunfts- und Akteneinsichtsrechte, Anregungs- und Antragsrechte, Eintritts- und Planungsrechte, Volksbefragung, Volksabstimmung, Einspruchsrechte, Kontrollrechte, Bürgerbüros.

Dann wird „Wien als Gemeinde“ behandelt, wobei insbesondere die Bezirke eine wesentliche Aufwertung und Anreicherung erfahren, weiters die „Kontrolle der Gemeindeverwaltung“, — sowohl Kontrollausschuß als auch Kontrollamt obliegt danach auch eine Prüfung der Umweltverträglichkeit, ein eigener Datenschutzbeauftragter soll eingeführt werden.

Die entwickelten Vorstellungen mögen für manche utopisch sein. Sie gehen nämlich nicht vom Bürger aus, der nur seine Ruhe und sein kleines Stückerl Glück haben will, sondern vom informierten Bürger, der politisch aktiv sein will. Sie setzen den Wiener Bürger voraus, der sozial engagiert ist, am Gesellschaftsgeschehen aktiv mitwirkt, für seine Umwelt tätig ist und sie gestalten will.

Der Entwurf ist dezentrali- stisch und radikal demokratisch. Ihm geht es nicht um technische Formulierungen, sondern um neue Wege zu neuen Ufern. Er versucht eine Antwort auf die Frage, wie ein festgeformtes und festgefahrenes System offen und flottgemacht werden kann.

Eine durch stabile Strukturen und Anpassungszwänge integrierte Gesellschaft, in der man auf längere Sicht nicht weiß, was das Richtige ist, soll sich öffnen, um durch Demokratie und Dezentralismus zu einem neuen Grundkonsens zu kommen. Das kann man freilich nur durch Anregung, Aufklärung, Vorbilder im einzelnen, in zäher Diskussion mit langem Atem erreichen.

Da und dort sind die Bürger erwacht und haben Initiativen ergriffen. Auch in Wien ist das Potential des kritisch engagierten und politisch aktiven Bürgers größer geworden. Die vorwärtsdrängende Energie der Demokratie ist dezentral vorhanden. Daher kommt der „Grätzeldemokratie“ große Bedeutung zu. Die politische Aufwertung der Bezirke ist ein richtiger Weg.

Man sagt den Wienern gern nach, daß sie vielleicht zu sehr subkulturelle Traditionen des Individualismus, ja des Individualanarchismus leben, zu Hause, im Privatbereich, im Kaffeehaus, im Beisei, beim Heurigen. Die Passivfreiheit ist mehr gefragt als die Aktivfreiheit.

Auf der anderen Seite sind Individuum, Person, Subjekt in der Umgangssprache nicht gerade mit einem Mehrwert ausgestattet. Politische Apathie ist nicht selten.

Der rationale Diskurs, die sachliche Diskussion, der selbstbewußte geistige Wettbewerb gehören aber zur Demokratie. Vielleicht kann auch die Diskussion um eine neue Wiener Stadtverfassung als Ideenwettbewerb geführt werden und politisch motivieren. Verfassungsreform verlangt in erster Linie öffentliche Diskussion.

Der hier vorgestellte Verfassungsentwurf ist jedenfalls ein Beitrag dazu.

Die Wiener Stadtverfassung ist heute den meisten Wienern unbekannt. Sie sollte viel mehr sein als nur die Spielregel von Parteien. Verfassungswissen und Verfassungsbewußtsein sind ein Spiegelbild der Demokratie. Der Bürger soll seine Verfassung kennen und mit ihrer Hilfe seine politische Freiheit aktiv ausüben.

Der Autor ist Professor für Verfassungsund Verwaltungsrecht an der Universität für Bodenkultur und Gemeinderat der OVP in Wien.

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