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Demokratie nur Rechenexempel ?

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Können demokratische Politiker im „Konkurrenzkampf um Zustimmung" mit Verzicht und Opfer reüssieren? Sicher nur dann, wenn über die Zielsetzungen Klarheit herrscht.

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Können demokratische Politiker im „Konkurrenzkampf um Zustimmung" mit Verzicht und Opfer reüssieren? Sicher nur dann, wenn über die Zielsetzungen Klarheit herrscht.

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Demokratische Politiker, die von der Erfüllung, ja Erfindung neuer Ansprüche leben konnten, und nun die Unerfüllbarkeit neuer, ja sogar die Verringerung bereits anerkannter Ansprüche vertreten müssen, geraten in einen Begründungsnotstand. Dem Dilemma, in dem der Demokratie systemimmanenten „Konkurrenzkampf um Zustimmung" Verzicht predigen zu müssen, können sie sich nur scheinbar entziehen. Denn selbst die Frage, wem sie in welchem Maße durch internationale Krisen erzwungene Opfer zumuten, erfordert hausgemachte Antworten.

„Die moderne Menschheit will von den Männern, die sich ihre Lehrmeister nennen, nicht den Weg gewiesen haben: sie will von ihnen bedient werden. Das haben die meisten unter ihnen auch mit bewundernswerter Schnelligkeit begriffen", schrieb schon 1926 der Franzose Julien Benda.

Die Frage für die demokratischen Politiker ist nun, mit welcher Schnelligkeit sie begreifen, daß sie doch einen Weg zu weisen haben: und zwar keinen bequemen, aber durch Anstrengung und Verzicht gangbaren Weg, der aus den Illusionen der Selbstübervorteilung aller durch alle und der Verpfändbarkeit der Zukunft herausführt.

Die einen meinen, der „Konkurrenzkampf um Zustimmung" mache eine derart wegweisende Politik von vornherein unmöglich, weil in ihm die Ansprüche des Augenblicks vorherrschen. Andere glauben mit Richard von Weizsäcker, die „Einsicht der Mehrheit der Bürger, daß ungeschminkte

Vorhersagen und langfristige Zielsetzungen notwendig sind, auch wenn sie eingefahrenen Gewohnheiten widersprechen", sei „größer als die Sucht der Wähler nach neuen Versprechungen."

Das entspricht einer von dem Franzosen Alexis de Tocqueville schon vor 150 Jahren aufgeworfenen Frage, die auf die Verträglichkeit von Bevormundung und Mündigkeit der Bürger abzielte. Tocqueville sah voraus, daß auch eine milde, durchaus auf das Wohl der Bürger bedachte Form demokratischer Bevormundung die Menschen „in der Kindheit festzuhalten" sucht.

Das Gefährliche an der Gefälligkeitsdemokratie war ein Prozeß der Infantilisierung, der Irrglaube, erwachsene Bürger könnten so wenig Verantwortung tragen und so sicher versorgt werden wie Kinder. Dieser Prozeß aber ist nicht durch die Bürger, sondern durch Politiker in Gang gesetzt worden, denen der „Mut zur Erziehung" fehlte, weil sie nicht wußten, in wessen Namen sie bestimmte, dem Gemeinwohl zuträgliche oder abträgliche Verhaltensweisen vertreten oder ablehnen sollten.

Die Demokratie ist auch in der pluralistischen Gesellschaft mehr als ein bloßes Rechenexempel. Die Technik des „Konkurrenzkampfes um Zustimmung" kann sicher noch verfeinert werden. Die repräsentative Demokratie ermöglicht die globale Zustimmung zu Personen, Parteien und Programmen, die direkte Demokratie die gezielte Zustimmung zu Problemprioritäten und Projekten, ja die neuen Medien lassen auch den via Bildschirm durch Knopfdruck abrufbaren Volkswillen als realisierbar erscheinen.

Aber selbst die blitzschnelle Hochrechnung ich- und gegenwartsbezogener Ansprüche ergibt noch keine zukunftsorientierte und gemeinwohlgerechte Politik. Das läßt auch das moderne Regelkreismodell politischer Willensbildung erkennen: Hier unterscheidet sich die Demokratie von der Diktatur durch das Ausmaß der Rückkoppelung.

Die Lernfähigkeit der Demokratie besteht darin, daß von oben getroffene Entscheidungen von unten nicht nur kontrolliert, sondern auch korrigiert werden können. Aber diese Rückkoppelung setzt einen Sollwertgeber voraus. Eine politische Führung, die nur noch Fragen stellt, kann zwar mit ebenso vielen Antworten rechnen, aber nicht mit der Formulierung der widerspruchsfreien Politik, die sie betreiben soll.

Das Stichwort „von oben getroffene Entscheidungen" läßt freilich auch erkennen, wie dieses Regelkreismodell verbessert werden kann, nämlich durch mehr weiter unten getroffene Entscheidungen. Das Subsidiari-tätsprinzip geht ja nicht von einem einzigen, sondern von einer Vielzahl abgestufter Regelkreismodelle aus. Je mehr die einzelnen Bürger und kleine Gemeinschaften ihre Angelegenheiten selbst zu regeln erlernen, umso größer wird die Chance, daß sie auch befähigt werden, an der Regelung der Angelegenheiten der großen Gemeinschaft mitzuwirken, während gleichzeitig die politische Führung der großen Gemeinschaft sich auf „strategische" Entscheidungen konzentrieren kann.

Eine solche strategische Entscheidung wurde 1953, gestützt auf die wahlarithmetische Mehrheit von nur einem Mandat, mit dem Raab-Kamitz-Kurs in der Hoffnung auf nachträgliche Bestätigung durch die Wähler getroffen. Eine solche strategische Entscheidung hätte Mitte der siebziger Jahre auch Bruno Krei-sky, gestützt auf eine absolute Mehrheit, treffen können, wenn er nicht nur Zwentendorf, sondern einen neuen Kurs dem Volk zur Abstimmung vorgelegt hätte.

Spätestens bei der Frage nach dem Funktionieren eines abgestuften Regelkreismodells stellt sich freilich die Frage nach einem Minimalkonsens über die Soll-Werte. Daß ein solcher auch bei großen ideologischen Unterschieden gegeben sein kann,bewies das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik. Nicht nur Ziele wie Wiederaufbau und Staatsvertrag standen damals außer Streit, sondern auch Verhaltensweisen wie die Bereitschaft zu Anstrengung und Verzicht als Mittel zum Zweck der Erreichung dieser Ziele.

„Ein durch Institutionen und Sitten stabilisiertes Verhaltensmuster politischer Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten", wie es Tocqueville vorschwebte, bleibt auch in Zukunft eine Herausforderung, auf die wir eine Antwort finden müssen.

Chefredakteur Karl Pisa (österreichischer Wirtschaftsverlag) referierte zu diesem Thema vor dem Management Club am 7. Mai in Wien.

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