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Demokratisierung der Demokratie

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Eine Forumsdiskussion über die Reform der Demokratie erreicht in der hitzig geführten Auseinandersetzung über das aktuelle Thema Mitbestimmung Höhepunkt und Abschluß. Dem einzelnen wird vor Augen geführt, wie viele Möglichkeiten der Mitbestimmung ihm offenstehen. Dann schließt der Diskussionsleiter, einer der Matadore aus der Ära der großen Dialoge, mit dem Satz: „Die Demokratie wird sich selbst zu helfen wissen.“ Darauf der skeptische Zwischenruf: „Und wer hilft mir vor der Demokratie?“ Protest, Gelächter und der Lärm der Aufbruchstimmung schwemmen den vielen unverständlichen Satz hinweg.

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Eine Forumsdiskussion über die Reform der Demokratie erreicht in der hitzig geführten Auseinandersetzung über das aktuelle Thema Mitbestimmung Höhepunkt und Abschluß. Dem einzelnen wird vor Augen geführt, wie viele Möglichkeiten der Mitbestimmung ihm offenstehen. Dann schließt der Diskussionsleiter, einer der Matadore aus der Ära der großen Dialoge, mit dem Satz: „Die Demokratie wird sich selbst zu helfen wissen.“ Darauf der skeptische Zwischenruf: „Und wer hilft mir vor der Demokratie?“ Protest, Gelächter und der Lärm der Aufbruchstimmung schwemmen den vielen unverständlichen Satz hinweg.

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Der Zwischenrufer hatte im Verlauf der Diskussion gesagt, wovor er geschützt sein möchte: vor der drohenden Überforderung des einzelnen im Falle der künftigen Verwirklichung des Schlagwortes Mitbestimmung. Die theoretische Formel Publizierung alter und neuer Lebensräume des Menschen bedeutet für den einzelnen tätiges Engagement zwecks Mitbestimmung in den diversen Schulen seiner Kinder, dm Betrieb, in den beruflichen Interessenvertretungen, in der politischen Partei, in der politischen Willensbildung der Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden), bei Bürgerinitiativen, nicht zuletzt in der Kirche und in jenen Vereinigungen, denen das spezielle Interesse des einzelnen gilt. In einer Familie vervielfacht sich die Zahl der Notwendigkeiten solcher Engagements. Mann, Frau und Kinder sind gleichermaßen zur Mitbestimmung aufgerufen. Kurz gesagt: Die Demokra-, tisierung der Demokratie in Form einer Intensivierung der Mitbestimmung des einzelnen wird strapaziös; sie überfordert trotz intensiver Information durch die Massenmedien das Einsichts vermögen; sie liefert den einzelnen in letzter Konsequenz neuen Steuerungsmechanismen aus, deren Funktionieren er, trotz der allseits versprochenen künftigen Transparenz des Politischen, niemals genau kontrollieren kann.

Die Schlagworte von der Demokratisierung der Demokratie, von einer besseren Demokratie der Zukunft, die jetzt gängig sind, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es dabei nicht um die bessere Demokratie geht, sondern um andere Machtverhältnisse. Zunächst bringen „Demokratisierung der Demokratie“, „Mitbestimmung“ oder wie immer die einschlägigen Parolen lauten mögen, nicht Schwächung der öffentlichen Hand, sondern deren Stärkung. Die Kritik gleitet an dieser Stelle nicht etwa auf die Einschätzung der Zustände in kommunistischen oder „sozialistischen“ Ländern des Ostens ab. Hier ist von Ländern die Rede, die man bis unlängst zur „freien Welt des Westens“ rechnen durfte. Zumal in Österreich, wo der Prozeß der Kollektivisierung den höchsten Stand diesseits des „Eisernen Vorhangs“ erreicht hat, konnte die öffentliche Hand schließlich bis auf den Grund (jetzt sagt man: Basis) durchgreifen.

Öffentliche Hand, das ist nicht mehr der „Nachtwäohterstaat“ der Liberalen. Es ist die heute gültige Bezeichnung für die Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden, für die Körperschaften des öffentlichen Rechtes (Kammern, Gewerkschaften und andere Interessenvertretungen) sowie für deren Einrichtungen der Versorgungswirtschaft und Unternehmungen. In Österreich hat die öffentliche Hand die bedeutenden Produktionsmittel, Banken, Sparkassen und Versicherungsanstalten in den Griff bekommen. Die öffentliche Hand liegt auf dem Besitz daran sowie auf Grund und Boden in so zahlreichen Fällen, daß daneben alle anderen Lebensräume in eine Beengtheit geraten, die ihnen gegenüber der Kollektivisierung wenig Chancen läßt.

Solange die öffentliche Hand von den „Bürgerlichen“ und von den „Sozialisten“ gemeinsam kontrolliert wurde, schien das ganze System erträglich und in Zeiten wachsenden Wohlstandes zuträglich zu sein. In dem Maße, in dem in der „freien Welt“ die erfolgreiche sozialistisch-linksliberalistische Welle zuerst bei der Umformung der öffentlichen Meinung, dann bei der politischen

Willensbildung obenauf kam, bekam dieses scheinbar nur geschichtlich gewordene System den Charakter einer „prinzipiellen Notwendigkeit“. Einer prinzipiellen Notwendigkeit im Sinne der diversen im Anschluß an Marx entwickelten Theorien. Mit der teilweisen Rezeption marxistischen Gedankenguts in die Programme der bisherigen christlichdemokratischen Parteien, wurde die „legitimierende Idee“ des Ganzen mit der Zeit total.

Die öffentliche Meinung hat diese Entwicklung nicht zuletzt deswegen nolens volens hingenommen, weil die Medien zur Herstellung dieser Meinung vielfach bereits längst in der öffentlichen linken Hand oder wenigstens in jener ihrer Vorhuten, in Redaktionen und Studios, waren.

Demokratisierung der Demokratie wurde hingestellt als Möglichkeit zur Intensivierung der Teilnahme des einzelnen innerhalb der Institutionen seines Lebensraumes. Die Schwäche dieser Möglichkeit wurde bereits angedeutet. Sie besteht erstens in der Uberforderung des einzelnen als Folge der von ihm verlangten Teilnahme an unzähligen EntScheidungsprozessen. Zweitens wurde als Ziel dieser Demokratisierung eine „mehr demokratische Gestaltung“ jener Institutionen herausgestellt, die quasi stellvertretend für den einzelnen die Harmonisierung der gesamtgesellschaftlichen Interessen besorgen sollen. Es ist aber bekannt, daß in diesen Institutionen den überorganisierten und überdifferenzierten modernen Lebensverhältnissen nicht mit intensivierter Mitentscheidung des einzelnen in unzähligen EntScheidungsprozessen begegnet wird, sondern mit der Überantwortung der Vor- und der Letztentscheidung an Technokraten, die dabei nicht nur innerhalb ihrer Fachkenntnisse entscheiden, sondern politische Entscheidungen vorwegnehmen. Eine Bürgerinitiative kann einen Park retten, vor der Überlegenheit der Technokratie rettet sie auch keine qualifizierte Mehrheit. Und drittens stellt man sich im Zuge der Demokratisierung eine Aktivierung der Menschenrechte, der Grundrechte vor, deren Haltbarkeit mit dem Fortschreiten der industriellen Revolution schleißig wurden. Was von diesen Rechten noch verblieb, nimmt jetzt die öffentliche Hand in ihre Obhut. In der bisher „freien Welt“ konnte das der alles-tuende Staat, die öffentliche Hand auch ohne die brutale Nachhilfe der Staatspolizei tun, weil dabei geradezu ein Mythos des alleskönnenden Staates entstand. In der BRD verlangt die Junge Union eine „familienferne“ Erziehung, weil man der öffentlichen Hand in dieser Hinsicht letzten Endes mehr zutraut als Vater und Mutter.

Die öffentliche Hand ist bei der Geburt wie beim Tod des Menschen spürbar. Sie nimmt die Entscheidung über den Eintritt des Ungeborenen in das Paradies der von ihr realisierten Wirtschaftswunder und Wohlfahrtsordnungen unter Kontrolle; sie handhabt die Norm der „sozialen Indikation“ im Falle des vom einzelnen oder von ihr nicht erwünschten Nachwuchses, weil sie nicht nur den Platz des Neuankömmlings in der von ihr unterhaltenen Kantinenwirtschaft einplanen will, sondern auch die weiteren Stationen der „Entfaltung des Individuums“. Und die öffentliche Hand entläßt den für die Produktion entbehrlichen oder wertlos gewordenen Menschen unter Berücksichtigung seiner bisherigen Sozialfunktionen in ein möglichst frühzeitig eröffnetes Pensionistendasein, in dem endlich

Arbeit und sinnvolle Beschäftigung hinter dem Horizont des Einzeldaseins verschwinden.

Computergesteuert werden eines Tages diese und andere Vorgänge nicht nur der „Gefahr menschlichen Versagens“ entzogen werden; es wird sich die Utopie des Marxismus erfüllen: die Herrschaft von Menschen über Menschen wird aufhören. Der Besitzer des Schlüssels zur Inbetriebnahme des Computers wird einrücken in die „unmittelbare Herrschaftsgewalt“, die einmal in den Gebietskörperschaften seßhafter Menschen ausgeübt wurde. Wenn einmal die ganze Welt „ein Dorf“ sein wird, fällt nicht nur der Bedarf an kleinen Kommunitäten, die zwischen dem einzelnen und dem Monster öffentliche Hand bestehen, weg; für Mitbestimmung ist im Computer keine Vorsorge getroffen. Wie könnte er auch in letzter Konsequenz, derartige „Korrekturen“ annehmen?

Demokratie ist Diskussion und Demokratie ist die Chance der Minderheit, ohne Gewaltanwendung in die Phase der Mehrheitsbildung zu gelangen. Demokratie war ursprünglich mehr: die Chancengleichheit der Vielen angesichts der Herrschaft der Wenigen. 1848 noch konnten es die mit Gewehren ausgerüsteten Aufständischen mit der regulären Infanterie aufnehmen; die Barrikade aus Pflastersteinen und Sandkästen war oft genügend Schutz gegen Kavallerie und Vorderladerkanonen und: die Flugblätter und Gazetten sowie der Mundfunk der Aufständischen waren der schwerfälligen, dürren Regierungspropaganda überlegen. Heute ist kein Aufruhr denkbar, der sich gegen ein durch die Exekutive abgestütztes Bündnis der Technokraten und Telekraten durchsetzen könnte.

Viele Menschen ahnen, daß moderne Mitbestimmung nicht mehr ist, als Mitläufertum der Vielen hinter den Wenigen, die jetzt die öffentliche Macht in Händen haben. Mitbestimmung im Betrieb wurde ein Testfall für den Zustand der heutigen Majorzdemokratie: Wenn der Präsident des ÖGB, einer Minorität des Wählervolkes (und das sind alle ÖGB-Mitglieder zusammengerechnet), vorweg feststellt, man werde im Herbst 1973 die dem ÖGB genehme Form der Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft in den Betrieben durchsetzen; wenn der Präsident des Arbeiterkammertages in diesem Fall die legendäre österreichische „Partnerschaft“ so auslegt, daß erfahrungsgemäß „die andere Seite immer nachgibt“, dann ist die Frage nach dem Bestand der Majorzdemokratie oder nach der Effizienz des österreichischen Modells der Partnerschaft gestellt.

Hier wird nicht der Teufel an die Wand gemalt. In den sechziger Jahren haben revolutionär eingestellte Teile der Hochschülerschaft die Frage der Mitbestimmung in akademischen Angelegenheiten zur Forderung erhoben. 1973 nehmen sie an einer deutschen Hochschulstadt für ihr Vorgehen in Anspruch, es käme ihnen nicht darauf an, ob dieses legal sei oder nicht, sondern darauf, ob es im Interesse des Volkes notwendig ist. Der Kreis ist geschlossen. Der Aufstand der Linksintellektuellen mündet in die Denkvorstellungen nationalsozialistischer Formulierungen. Dem eingangs erwähnten Zwischenrufer rief man nach, er sei ein Neonazi. Aber die öffentliche Hand von 1973 ist nicht NS-gleich-geschaltet. Sie ist linksgesteuert und sie greift durch, ohne mit Standarten und Trommelschlag die neue Zeit und die Ankunft des neuen Menschen anzukündigen.

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