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Den Alltag einfach loslassen

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Advent sollte Zeit der Stille sein. In der vorweihnachtlichen Hektik kommt diese jedoch meist zu kurz. Ein Anlaß, über die Bedeutung der Stille nachzudenken.

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Advent sollte Zeit der Stille sein. In der vorweihnachtlichen Hektik kommt diese jedoch meist zu kurz. Ein Anlaß, über die Bedeutung der Stille nachzudenken.

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Wer sucht nicht bisweilen einen Ort auf, wo er allein ist, und die Welt nicht wie im Transit erscheint? Manchmal werden weite Reisen unternommen, um zu dieser einsamen Insel zu kommen. Offenbar fehlt es, wo wir leben, an Grenzen zur Umgebung, alles fließt über, was dem Gebrauch dient und ein, was verwertbar ist. So mancher von uns wird in dieser Situation zum Entsorgungsfall und eine Insel zur Mülldeponie.

Es scheint uns wohl, daß wir nur dort aufgehoben sind, wo etwas passiert und woran wir nicht teilgenommen haben, ein Mangel herrscht. So wollen wir alles. Wir leben daher in der paradoxen Situation, kein Geschenk für ein Leben in Anstrengung und Mühe zu erhalten, sondern uns verlassen zu fühlen. Als Gegenmaßnahme suchen wir nach Wert. Wir lassen uns in Selbstfm-dungskursen schulen, um eine solche geistig mentale Aura zu erhalten. Das steht in Widerspruch zu einem Ertrag aus ßeruf, Familienglück oder Freude an der Natur. Die Trennung von Freizeit und Beruf sind die zwei Enden dieser Entfremdung.

Stille ist kein Ort, wo Ehrgeiz etwas zählt. Es ist auch nicht möglich, sie physikalisch zu messen. So sind auch nicht die Ruhe- und Erholungsräume, die wir einrichten, von vornherein Räume der Stille. Es kommt auf die innere Gestimmtheit des Menschen an. Stille verlangt ein Loslassen vom Alltag, eine Form des Anschauens der Welt, als wäre sie vollkommen.

Nur der Zufriedene erlebt Stille, der, der mit sich im Einverständnis steht und sich als Ganzes fühlt. Denn in der Stille gibt es nichts, was außerhalb einem liegt.

Es ist auch interessant, daß wir gerne die ßegriffe „still” und „verträumt” kombinieren. Das deutet darauf hin, daß wir das Schöne in der Stille suchen. Einen angenehmen Gehalt des Gefühls, eine Bezie-hung zu etwas besonders Schätzenswertem.

In einer ihrer reinsten Formen ist Stille in der Natur zu finden. Ein Wald, dieses geschlossene Ensemble, in dem man nur Bäume sieht, schließt gegenüber der Welt ab und wenn die Sonne durch die Blätter blinzelt, wird er zum Hain, in dem sich das Ungewöhnliche vollzieht, nämlich Geborgenheit. Geborgenheit ist eine der wichtigsten Erscheinungen in der Stille.

Natur, die der Mensch nicht antastet, ist an sich selbst genug, sie strahlt die Kraft der Lebensfülle aus und der Mensch entdeckt in ihr eine ungewohnte Beziehimgsdichte, obwohl er nur eine Abendstimmung am Waldrand wahrnimmt. Der Mensch ist daheim, wenn das Wesen der Natur seiner Natur entspricht. Wir erleben die Natur als Gestalt. Etwas Besonderes ist die Anschauung in der Stille der Natur. Die Begriffswelt ruht und nimmt Baum, Strauch und Gras als Ganzes wahr.

Bergeinsamkeit ist einer der besonderen Gehalte der Natur. Der Fels ist nicht einfach kalt und abweisend, sondern das Urgewächs des Daseins. Ihn zu berühren, heißt, darauf zu vertrauen, von ihm angenommen zu werden. Die Anmutung in einer Senke, ringsum die Berge, stillt den Wunsch, bei sich zu sein. Stille läßt sich jedoch nicht nur allein erleben. In einer solchen Senke, ringsum Berge oder auf einem Gipfel, ringsum das Land, erfaßt sie auch eine ganze Gruppe. Wir können einander einladen, still zu sein. Das Gemeinschaftsgefühl ist dann besonders stark und es scheint, als ob nichts uns etwas anhaben könnte.

Stille erfaßt Weltgefühl. Darm ruht Gottesnähe. In ihr wird die Offenbarung verständig, wie der Mensch zu seinem Wesen kommen kann. Um Stille zu erleben, ist keine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion erforderlich, ja nicht einmal Religiosität. Sie schließt jedoch existentielle Fragen ein, nach Gott, der Zukunft, nach einem Leben, das mit dem Tod nicht zu Ende ist.

Gott ist in der Stille

Gott ist in der Stille gegenwärtig. Sie spricht von ihm als einem Hüter des Ruhenden. Er schenkt in ihr Demut, die ßereitschaft, die Schöpfung als etwas Gelungenes anzusehen. Gottesnähe in der Stille erzeugt Selbstbetrachtung. Eine Lebenssituation liegt hinter uns und strahlt ein Gewicht der Vollkommenheit, des Loslassens und Geschehenlassens in der Stille aus. Es ist nicht notwendig, etwas rückgäng zu machen. „Es herrscht andächtige Stille”, heißt es manchmal von einem Gotteshaus oder einem Auditorium.

Kunstgenuß ist etwas, das Stille in die Mitte rückt. Es kommt zur Kontemplation. In dieser fühlen wir uns gottebenbildlich. Aber es ist nicht Gottes Wille, uns in der Stille zu halten. Sie ebnet der Erwartung des Kommenden den Weg, in der es wieder darum geht, zu unserer Identität zu gelangen, die uns befähigt, Stille als Raum der geschenkten Demut und Geborgenheit zu empfinden.

In diesem Sinn ist Stille in einem Kreislauf gebunden. Er gleicht einem Achter. Der obere Kreis ist Stille, der untere Leben. Bewegung ist nach allen Seiten hin möglich.

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