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Den Kummer im Alkohol ertränkt

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Er war nie betrunken. Sein Al- koholkonsum war für seine Umgebung völlig unauffällig. Wer hätte gedacht, daß Herr A. alkoholkrank ist?

So beginnen viele der Fälle von Primarius Rudolf Mader, dem Vorstand des Anton-Proksch-ln- stitutes für Suchterkrankungen in Wien-Kalksburg.

Mehr Österreicher als man glaubt, haben Probleme mit dem Trinken. Schätzungsweise 250.000 Menschen sind in unserem Land alkoholkrank, 650.000 sind in Gefahr es zu werden. Der A Ikoholis- mus ist die verbreitetste Form der Drogenabhängigkeit.

So unterschiedlich die Lebensgeschichten der Alkoholkranken sind, eines haben sie gemeinsam: Fast nie erkennt die Umgebung die Gefahr im Anfangsstadium der Krankheit.

FURCHE: Ist der Alkoholismus eine Erscheinung der modernen Leistungsgesellschaft?

RUDOLF MADER: Nein, schon 1901 hat es in Wien einen Kongreß zum Thema Alkoholismus gegeben. Damals hat der kaiserliche „Gesundheitssprecher“ festgestellt, daß der Alkoholismus in Österreich ein enormes Problem darstellt. Zwei Prozent der damaligen Bevölkerung, so hieß es, sind Alkoholiker. An dieser Zahl hat sich im wesentlichen nichts geändert.

Die tatsächliche Zahl der Alkoholkranken kennt wahrscheinlich niemand; aber man schätzt, daß etwa im mitteleuropäischen Raum 2,5 Prozent der Bevölkerung alkoholkrank sind. Allerdings ist gerade für Österreich diesbezüglich ein positiver Aspekt zu vermerken. Weltweit steigt der Alkoholkonsum. Meßzahl ist der Konsum an reinem Alkohol pro Kopf. In zwei Ländern steigt er nicht: in Österreich und in Frankreich. In Frankreich sinkt er sogaf, obwohl natürlich die Franzosen ein viel höheres Ausgangsniveau haben und nach wie vor an erster Stelle liegen. In Österreich ist die Lage seit zwölf Jahren ziemlich stabil.

FURCHE: Ab wann gilt jemand als alkoholkrank?

MADER: Wer längere Zeit hindurch 60 Gramm reinen Alkohol — das entspracht etwa einem Dreiviertelliter Wein oder drei Flaschen Bier - konsumiert, der muß zumindest mit einer Leberschädigung rechnen.

Vor etwa zehn Jahren wurde in Österreich eine Untersuchung gemacht. 13 Prozent der Österreicher im Alter von 16 bis 69 Jahren kamen den Berechnungen zufolge auf eine Trinkmenge, die über diesen 60 Gramm liegt. Diese 13 Prozent, die zumindest mit Leberschädigungen rechnen müssen, sind 650.000 Personen! Darunter sind auch bereits viele Alkoholkranke. Als alkoholkrank gilt, wer physische und psychische Folgeerkrankungen aufweist.

FURCHE: Ist Trinken eine milieuspezifische Angelegenheit?

MADER: Nein. Manager sind genauso davon betroffen wie Arbeitslose. In Kalksburg etwa steht an erster Stelle der Alkoholkranken der Facharbeiter, schon an zweiter Stelle liegt der leitende Angestellte. Dann kommt der Hilfsarbeiter und an vierter Stelle der Selbständige. Die vier Gruppen sind prozentuell etwa gleich aufgeteilt.

FURCHE: Warum kann einer rechtzeitig aufhören und der andere betrinkt sich exzessiv?

MADER: Das kann sich leider keiner aussuchen. Es gibt die sogenannten „Spiegeltrinker“. Die greifen unauffällig zur Flasche. Kommen — auf den Tag verteilt — auf beträchtliche Mengen. Drei bis vier Liter Wein pro Tag, jede halbe Stunde ein Achterl Wein ‘ beispielsweise. So jemand ist nie richtig betrunken. Er hält nur ständig einen bestimmten Alkoholspiegel.

Ein anderer Typ ist der phasen- hafte Trinker. Der trinkt oft über Monate nichts. Wenn aber er zur Flasche greift, dann trinkt er exzessiv durch. Dieser Trinkertypus hat relativ spät organische Schäden, weil sein Körper Zeit zum Regenerieren hat. Allerdings beginnen früh soziale Schwierigkeiten. Am Arbeitsplatz beispielsweise oder in der Familie.

FURCHE: Warum wird Trunksucht toleriert, Rauschgiftsucht nicht?

MADER: Das hängt unter anderem mit den Trinksitten zusammen, die auch kulturell bedingt sind. Wenn Sie heute im Orient eine Opiumpfeife rauchen, stört das niemanden. Betrinken Sie sich aber, werden dort die Leute zusammenlauffen. Bei uns ist es umgekehrt. Wer sich für eine Heroinspritze den Ärmel hochkrempelt, erregt Aufsehen, ein Betrunkener am Volant wahrscheinlich keines.

FURCHE: Nützt massive Aufklärung?

MADER: Bei Aufklärungsarbeit muß man sehr aufpassen. Es gibt Beispiele, wonach der Drogenkonsum gerade nach Aufklärungskampagnen besonders sprunghaft angestiegen ist. In Kanada, Sehweden, den USA beispielsweise. Beim Alkohol ist das anders. Beim Alkohol weiß jeder, welche Wirkung er erzeugt, bei Drogen nicht. Beim Alkohol kann keine Neugierde mehr geweckt werden.

FURCHE: Warum wird jemand alkoholkrank?

MADER: Einen einzigen, exakten Grund habe ich noch bei keinem meiner Patienten feststellen können. Voraussetzung ist aber fast immer eine Persönlichkeitsstörung. Ein „normaler“ Mensch wird kein Alkoholiker. 30 Prozent meiner Patienten beispielsweise haben in ihrem Leben starke depressive Phasen gehabt. Sie fühlten sich durch den Alkohol besser. Es wird aber nicht gezielt zur Droge Alkohol gegriffen. Die meisten kommen eben im Lauf der Zeit drauf, daß sie mit Alkohol das Leben leichter „ertragen“. Sie müssen dann immer mehr die Dosis steigern, um denselben Effekt zu erzielen. Und auf einmal ist dieser Mensch süchtig. Das Elternhaus spielt auch eine entscheidende Rolle. Ein Drittel meiner Patienten hat zumindest einen krankhaft trinkenden Eltemteil.

FURCHE: Sind Frauen stärker gefährdet als Männer?

MADER: Nein, aber bei Frauen gibt es das Problem, daß sie neben Alkohol- auch Medikamenten- mißbrauch betreiben. 30 Prozent meiner Patientinnen, aber nur fünf Prozent meiner Patienten sind medikamentensüchtig. Es werden Aufputschmittel oder Beruhigungstabletten geschluckt, Abmagerungsmittel und so weiter.

FURCHE: Was kostet der Alkoholkranke d^e Öffentlichkeit?

MADER: Es gibt in Österreich dazu keine Berechnungen, aber in der Schweiz und in der Bundesrepublik. Dazu muß man folgendes sagen: Das Durchschnittsalter meiner Patienten beträgt bei den Männern 38 Jahre, bei den Frauen 34 Jahre. Im Durchschnitt beginnen sie zwischen dem 19. und dem 25. Lebensjahr mit dem krankhaften Trinken. Das Gefährliche an dieser Entwicklung ist, daß sie langsam und schleichend vor sich geht. Im Anfangsstadium merken weder der Betroffene noch seine Umgebung das Problem. Es dauert dann rund 15 Jahre, bis die Alkoholkrankheit sichtbar ist. Etwa ab dem 45. Lebensjahr fällt ein Alkoholkranker daher der Öffentlichkeit zur Last. Das heißt, er ist nicht mehr arbeitsfähig, zahlt keine Steuern mehr, hat Behandlungen und Spitalsaufenthalte. Seine Lebenserwartung sinkt allerdings auch um 23 Jahre. Ein Alkoholkranker kostet dann etwa 3,5 Millionen Schilling.

FURCHE: Wer bezahlt eine Entziehungskur?

MADER: Wir sind eine Sonderkrankenanstalt, und die Sozialversicherungen zahlen daher den Krankenhausaufenthalt. Das kostet rund 1.000 Schilling pro Tag. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt 41 Tage, also kostet sie rund 41.000 Schilling. Wir behandeln rund 2.000 Patienten stationär und knapp 7.000 ambulant. 9.000 Patienten gehen also pro Jahr durch unser Haus.

FURCHE: Wie hoch ist die Erfolgsquote?

MADER: Wir haben zahlreiche Studien gemacht und können generell sagen: Ein Drittel der Behandelten bleibt abstinent, ein Drittel hat nach etwa dreieinhalb bis vier Jahren einen Rückfall und muß stationär aufgenommen werden, und ein Drittel ist chancenlos.

FURCHE: Wie sieht eine Entziehungskur im Detail aus?

MADER: Die Aufnahme erfolgt auf freiwilliger Basis. Die Bereitschaft zur Abstinenz ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Entziehungskur. Danach folgt die Entgiftungsphase, die medizinische und medikamentöse Hilfe umfaßt, die der Süchtige wegen der auftretenden Abstinenzsymptome benötigt. Diese erste Phase, die oft schlimm sein kann, dauert eine Woche, in der die Patienten meist schlafen. Die Probleme beginnen aber erst in der nächsten Phase, bei der psychotherapeutischen Betreuung. Durch Einzelgespräche, Gruppen-, Arbeits- und Sozialtherapien soll der Betroffene in die Lage gebracht werden, selbst Kräfte zur Lebensbewältigung zu entwickeln. Das ist die schwierigste Phase eines Entzugs. Nicht zufällig sind 35 von meinen 36 Ärzten Psychiater.

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

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