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Den Mythos entschlüsseln

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Rudolf Bultmann ist der evangelische Theologe, der in unserem Jahrhundert die wissenschaftliche Arbeit am Neuen Testament entscheidend geprägt hat. Er hat wie kaum ein anderer „Schule" gemacht, gleichzeitig wurde er wie kaum ein anderer angefeindet und verketzert.

Sein wichtigstes Anliegen war ein eminent praktisches, nämlich die Botschaft des Neuen Testa-

mentes so auszulegen, daß sie für den Menschen Unserer Zeit zu einem echten Anstoß werden kann — ein unaufgebbares Anliegen jeder Theologie. Der heutige Mensch mit all seinen Fragen und Zweifeln soll von der Botschaft so angesprochen werden, daß er sich unmittelbar getroffen und vor die Entscheidung gestellt weiß. Unnötige Barrieren sollten weggeräumt werden.

Dem diente vor allem das Programm der Entmythologisierung, das im besonderen mit dem Namen Bultmanns verbunden ist. Mythologisch verschlüsselte Texte, in denen ein unmittelbares Eingreifen jenseitiger Mächte in den diesseitigen Geschehensablauf vorausgesetzt wird, müßten

— so Bultmann — entschlüsselt werden, indem sie mittels existen-tialer Interpretation auf die Existenz des heutigen Hörers hin ausgelegt würden. (Bultmann ist hier von Kierkegaard und Heidegger bestimmt; daß er das Gespräch mit der Philosophie stets suchte, ist ein Charakteristikum seiner Arbeit.) Mythologische Texte sollten nicht — wie in der rationalistischen Phase der Theologie — eliminiert, sondern interpretiert werden, ihre eigentliche Aussageabsicht, von einer jenseitigen Macht zu reden, die Mensch und Geschichte bestimmt, sollte dargelegt werden. Da der Mythos aber vom Jenseits objektivierend, also in diesseitigen Verstehenska-tegorien und letztlich unangemessen rede, liege in ihm selbst schon die Forderung seiner Dechiffrierung.

Diese Positionen riefen viel Kritik hervor, die zum Teil berechtigt ist. Bultmann ging von einem naturwissenschaftlichen Verständnis aus, das heute nicht mehr ohne weiteres gilt, auch redete er zu idealistisch von dem heutigen Menschen. Mythologische Aussagen in einer sekundären Naivität weiterhin nachzusprechen ist dann durchaus zulässig, wenn sie in ihrem mythologischen Charakter bewußt geworden sind. (Bei dem, was man heutzutage an Mythologie vorgesetzt bekommt,

scheint diese kritische Reflexionsstufe durchaus nicht immer durchlaufen worden zu sein.) Dennoch wird das Anliegen, dem Menschen kein „sacrificium intel-lectus" aufzuerlegen, nicht aufgegeben werden können.

Rudolf Bultmanns Bedeutung erschöpft sich keineswegs in dem, was mit den Stichworten Entmythologisierung und existentiale Interpretation umschrieben wird. Er hat entscheidene Beiträge zur Darstellung der Entwicklung der frühchristlichen Theologie geliefert; in seiner „Geschichte der synoptischen Tradition" zeichnete er den Traditionsprozeß der frühesten Uberlieferung von der Jesustradition bis zur schriftlichen Fixierung in den Evangelien nach; sein Kommentar zum Johannesevangelium ist unübertroffen, meisterhaft seine Darstellung der Theologie des Neuen Testaments. Mit diesen Arbeiten hat er Maßstäbe gesetzt, die die Folgezeit, zustimmend oder ablehnend, respektieren mußte.

Freilich bleibt auch bei Bultmann manches offen: der gesellschaftliche Bezug christlichen Glaubens sowie die Geschichte kommen bei ihm nicht adäquat zur Darstellung. Aber selbst dort, wo er zu wenig sagt, sollte seine Stimme nicht vergessen werden.

Der Autor ist Assistent für Neutestamentli-ehe Wissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien.

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