6935605-1983_08_14.jpg
Digital In Arbeit

Denken als Wagnis

Werbung
Werbung
Werbung

Auch in der Philosophie wechseln die Moden, manchmal ebenso kurzlebig, wie in allen anderen Bereichen des Daseins. Gibt sich das, was vielen als die deutsche Denkprovinz heute erscheint, vorwiegend angelsächsisch, und war sie gestern noch deutsch, wird sie morgen vielleicht romanisch oder chinesisch sein. Wahres Philosophieren, auch wenn es in Mode kommt, bleibt davon unberührt.

Dies gilt nicht zuletzt vom Denken von Karl Jaspers, dessen run-

der Geburtstag, noch dazu der eines Dezenniums, einem in Erinnerung rufen mag, wie nahe und doch fern zugleich uns eine Generation anmutet, die jene Denkerpersönlichkeit hervorbrachte, um die wir heute klagen.

Man braucht nicht Freud zu beschwören, um die heutige philosophische Landschaft als Zusammenspiel von Großvätern und Enkeln zu verstehen, in dem die Väter der Philosophie ausgefallen sind: die gleichsam im Erkenntnislabor der Gegenwart tätigen grauen Mäuse lassen einem umso schmerzlicher zu Bewußtsein kommen, wie sehr sie uns fehlen: jene großen Gestalten der Philosophie, von denen Karl Jaspers sicher nicht einer der geringsten gewesen ist.

Jaspers ist unermüdlich für das eingetreten, was heute von Berufsphilosophen oft nur zögernd angeführt wird: für die ureigenste Sache der Philosophie, die für ihn immer mit der Frage nach dem Menschen, seinem Woher und Wohin verbunden war.

Im Zusammenhang mit Heidegger und Sartre galt Jaspers als einer der Hauptvertreter der sogenannten Existenzphilosophie. Freilich unterschied sich sein existentielles Denken, das nie schulbildend wirken wollte, sowohl von der Systematik der Daseinsanalysen Heideggers wie auch von der Aggressivität des Sar-treschen Existentialismus. Jaspers wollte — unter dem sittlichen Anspruch des Appells an die Selbstwerdung des Menschen — Vernunft und Existenz als Pole unseres Seins miteinander in Verbindung bringen.

In ständiger Auseinandersetzung mit den großen Denkern der Vergangenheit wollte er dem auf der Spur bleiben, was sich gleichsam unberührt von allem Wechsel durch die Geschichte zieht: das zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Gewißheit und Offenheit, Sicherheit und Scheitern geschehende Fragen des Menschen nach sich selbst.

Jaspers, der von der naturwissenschaftlich orientierten Medizin und Psychiatrie kommend in den dreißiger Jahren in der Philosophie eine der großen Wenden des nachmetaphysischen Denkens einleitete, sah die Aufgabe der Philosophie nie abgelöst von den Sinnfragen menschlichen Existierens, immer im Bewußtsein der grundsätzlichen Offenheit und Unabgeschlossenheit unseres Daseins. Von daher leitete sich sein Widerstand gegen jede Absolutsetzung ab, ob dies nun in der Wissenschaft oder in der Religion geschah.

Dieser Denker und Bedenker der Grenzsituationen, ja des Scheiterns des menschlichen Seins, der zugleich wie kein anderer für Freiheit und Verantwortung, für Kommunikation und Selbstwerden des Menschen eintrat, war trotz seiner gelegentlich moralpredigerisch anmutenden Attitüde immer von demjenigen berührt, was alles große Philosophieren in Atem hält: der Anspruch, das zu bedenken und zu enträtseln, was ist.

Jaspers hat die Zwiespältigkeit und zugleich Größe der Philosophie immer wieder artikuliert: rational und objektiv argumentieren zu müssen und zugleich diese Argumentation als Appell an eine Freiheit zu verstehen: ein Anspruch, der sich allzuleicht zugunsten einer der beiden Größen minimalisieren läßt. Darum schloß für ihn Philosophie auch immer schon — freilich nicht vordergründig zu verstehende — politische Konsequenzen ein. Er, der die Folgen des Totalitaris.mus in Gestalt eines wirklichen Berufsverbotes am eigenen Leibe erfuhr, ist unermüdlich für die Freiheit des Denkens, im Bereich der universitären Gemeinschaft und dem der Demokratie eingetreten, beide vielleicht in nahezu prophetischer Weise überfordernd.

Die hundertste Wiederkehr seines Geburtstages sollte mehr für uns bedeuten als eine oberflächliche Erinnerung an ein Denken, das die „Chiffren" des für uns Unverfügbaren zu deuten versuchte.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung