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Denken oder büffeln ?

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Die ewige Leier all derer, die das Latein aus den Schulen verbannen wollen, um die allgemeine Vertrottelung zu fördern und also Untertanenmentalität zu züchten: Der Wissensstoff sei so immens gewachsen, daß man zu Gunsten anderer Fächer die „tote Sprache“ einsparen müsse.

Im Verhältnis zu welcher Epoche, bitte, hat denn der Wissensstoff sich vermehrt? Zu 1950? Zur

Vorkriegszeit? Zum 19. Jahrhundert? Zur Renaissance? Zum Hellenismus?

Im Altertum, jedenfalls, sind die Gelehrten wie ihre Schüler gleichsam vor einem einzigen, allerdings riesigen, unbeschriebenen Blatt Papier gesessen, und ihr Wissensstoff war die ganze Welt: die ganze Welt der Ideen wie auch die ganze Welt der Erscheinun gen. Philosophie und Mathematik, Geschichte und Biologie, Medizin und Jurisprudenz, Politik und Astronomie, Physik und Architektur, Industrie und Sprachen, Technik und Sport, Pädagogik und Agrikultur, Theater und Volkswirtschaft, Geographie und Kriegswesen: alles dies mußte erforscht und zugleich geschaffen und angewandt, mußte gelernt werden.

Und: es wurde denn auch gelernt; und zwar innerhalb einiger hundert Jahre. Alles Spätere — ob nun Thomas, ob Machiavelli, ob Galilei, ob Einstein — war dann nur noch: Variationen der damals gestellten Fragen, war allenfalls: Differenzierungen, Konkretisie rungen der damals gegebenen Antworten. In den Prinzipien hat sich durchaus nichts geändert, und in den Methoden erst recht nichts.

Und eben dies: die Prinzipien und die Methoden, soll die Schule vermitteln: die Werkzeuge bilden, die man dazu benötigt, den Wissensstoff anzupacken und mit ihm umzugehn. Der Wissensstoff selber gehört aber nicht in den Kopf, denn er steht in den Büchern — und ist schon seit zweitausend Jahren so groß, daß niemand ihn auswendig lernen und hersagen könnte. Der Kopf muß nur wissen, wie man die Bücher liest. Man muß denken lernen; müßte es, jener Logik zufolge, nur um so mehr, je mehr an Wissensstoff zu bewältigen ist. Und denken lernt man am zuverlässigsten im Latein — ganz abgesehen davon, daß die lateinische Sprache obendrein sehr viel mehr Wissensstoff transportiert, als progressive Schulweisheit sich träumen läßt.

Selbst wenn stimmt, daß ein Wasserbauingenieur kein Latein braucht: dann stimmt doch erst recht, daß ein Rechtsanwalt keine Chemie und ein Pharmazeut keine Mathematik, ein Steuerberater keine Physik und ein Arzt keine Erdkunde braucht: mit dem gegen die alten Sprachen verwendeten Argument kann man buchstäblich alles für unnütz erklären; ihm folgend, müßte man eigentlich al les abschaffen. Und eigentlich tut man das ja: indem man allem die Fundamente entzieht, auf denen es ruht und beruht: die Antike.

Die Antike verstanden als jene einzige Schule, in der wir lernen, den Geist zu bewegen: nicht mit fertigem Wissen an die Probleme, die das wechselhaft launische Element des Lebens uns stellt, heranzutreten, sondern zuerst einmal die uns konkret — das heißt: jedesmal anders — aufgegebene Frage als das, was sie ist, zu erkennen und sie nun nicht aus dem Buch, sondern aus dem Kopf zu beantworten. Schöpferisch denken: vor dem Patienten, im Kuhstall, überm Budget, auf der Baustelle, hinter dem Richtertisch, als Kompaniekommandant, am Herd, vor Schülern ... in eigenen wie vor den Nöten anderer. So kann man dienen, so kann man helfen, so kann man, vielleicht sogar, retten. Mit Wissensstoff aber kann man bloß protzen.

Der erste Diskussionsbeiträg „Enteignet das Latein!“ erschien FURCHE Nr. 45. Es folgen weitere Stellungnahmen.

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