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Denker brechen mit dem Sozialismus

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Noch vor nicht allzu langer Zeit galten in Frankreich „intellektuell" und „links" als ein und dasselbe. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert. Die französischen Intellektuellen gehen neue Wege.

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Noch vor nicht allzu langer Zeit galten in Frankreich „intellektuell" und „links" als ein und dasselbe. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert. Die französischen Intellektuellen gehen neue Wege.

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Vor einigen Monaten bedauerte der Regierungssprecher und Schriftsteller Max Gallo das Schweigen der Linksintellektuellen, die sich hiermit dem politischen Engagement zugunsten des sozialistischen Regimes entzögen. Er löste eine ebenso langwierige wie sterile Diskussion aus, die an den Realitäten vorbeiging.

Inzwischen wurde aber immer offensichtlicher, daß es die Linksintellektuellen, die lange das politisch-geistige Leben des Landes beherrscht oder zumindest stark beeinflußt hatten, nicht mehr gibt. Ihr brillantester Prototyp — oder besser: ihr Symbol — war der Philosoph und Dramaturg Jean-Paul Sartre, zunächst ein Mitläufer der Kommunisten und nach einer späten Ernüchterung durch den Stalinismus ein Streiter zugunsten aller revolutionären Bewegungen, vor allem der Dritten Welt.

Sein Gegensymbol ist jetzt der international bekannte Schauspieler Yves Montand, Sohn eines kleinen militanten Kommunisten und selbst bis zum Ende der fünfziger Jahre wohl nicht Mitglied, aber aktiver Freund der Kommunistischen Partei. Nach einem ihm sicherlich nicht leicht gefallenen Wandlungsprozeß wurde er zum Kämpfer für Freiheit und Liberalismus.

Die Linksintellektuellen sind eine französische Erfindung. Sie bildeten zum ersten Mal um die Jahrhundertwende während der Dreyfus-Affäre eine politisch-solidarische Gruppe von Künstlern, Schriftstellern, Philosophen, Soziologen und so weiter, die sich für den zu Unrecht verurteilten Hauptmann gegen die nationalistisch-reaktionären Kräfte einsetzten.

Der rechte Flügel der geistigen Elite kompromittierte sich vor und während des Zweiten Weltkrieges durch seine mehr oder weniger aktive Sympathie für Faschismus und Nationalsozialismus. Anschließend verschwand die Kategorie des Rechtsintellektuellen für drei Jahrzehnte völlig von der Bildfläche.

Es erfolgte eine ziemlich allgemein anerkannte Identifizierung zwischen intellektuell und links, die erst in jüngster Vergangenheit einer gewissen Differenzierung wich, bevor die Intellektuellen mit überwiegender Mehrheit aus dem Lager der Linken ausschieden.

In einer ersten Phase kam es in Etappen zum Bruch mit dem Kommunismus. Die Anstöße hierzu waren Stalins Prozesse gegen die jüdischen Ärzte, die Invasionen Ungarns und der Tschechoslowakei, Afghanistan, Polen und die aggressiven SS-20-Rake-ten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen setzten sich aber die Linksintellektuellen 1981 noch für die Wahl Mitterrands zum Präsidenten ein.

Die Abkehr vom Sozialismus war die zweite entscheidende Phase. Es wäre zu einfach und zu oberflächlich, sie durch die natürliche Neigung der Intellektuellen zur Kritik zu erklären beziehungsweise durch ihre tiefe Abneigung, ein politisches Engagement zu übernehmen.

Ausschlaggebend war zunächst die tiefe Enttäuschung über dieSowjetunion. Sie mußte auch Mißtrauen gegenüber dem nichtkommunistischen Sozialismus wecken und zu einer kritischen Beobachtung seiner Maßnahmen oder Orientierungen veranlassen.

Die französischen Intellektuellen haben ein schlechtes Gewissen, weil sie zu lange die Mißachtung der Menschenrechte stillschweigend hinnahmen und sich zu ausschließlich von der Hoffnung auf den sozialistischen Silberstreifen am Welthorizont leiten ließen. Dies haben ihnen die östlichen Dissidenten, vom Russen Solschenizyn bis zum Tschechen Kundera wiederholt bitter vorgeworfen. Sie wurden dann selbst zu ständigen Warnern vor einer immer ernster genommenen sowjetischen Bedrohung der Freiheit und Sicherheit.

Die antisowjetische Haltung Mitterrands hätte allerdings das Vertrauen der Intellektuellen in den Sozialismus retten können. Sie empfanden jedoch die kommunistische Regierungsbeteiligung nicht nur als einen Irrtum, sondern fast als Provokation. Sie erkannten aber vor allem, daß die Verwirklichung des sozialistischen Gleichheitsideals ihrer elitären Mentalität zuwiderläuft.

Wie sollten sie mit einer einebnenden Hochschulreform einverstanden sein? Für klar denkende Menschen ist eine Ideologie nur dann erträglich, wenn sie in den Wolken schwebt und nicht konkret den Alltag bestimmt. Frankreichs geistige Schicht wurde sich auch der Tatsache bewußt, daß die Freiheit unteilbar ist, der mit dem Sozialismus notwendigerweise verbundene Dirigismus die Bewegungsfreiheit des Individuums einengt und sich mit einer erdrückenden Bürokratie verbindet: Immer mehr Staat bedeutet immer weniger Freiheit.

Die französischen Intellektuellen schrecken vor der atomaren Gefahr nicht zurück, denn sie halten das Wagnis der nuklearen Abschreckung zur Bewahrung der Freiheit für unumgänglich. Für sie gehört der Verteidigungswille zum Kampf für die Freiheit. Pazifismus und Neutralismus verurteilen sie als verhängnisvolle Abdankung. Die Risikobereitschaft bildet das Fundament ihres politischen Engagements.'

Diese Veränderung der geistigen Landschaft bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Sozialistische Partei, die außerdem den Widerspruch zwischen ihren ideologischen Vorstellungen und den wirtschaftlich-sozialen Realitäten zur Kenntnis nehmen muß. Sie befindet sich daher augenblicklich auf der Suche nach einer neuen Doktrin.

Der schon erwähnte Regierungssprecher Gallo machte sich darüber gerade in einem etwas hastig geschriebenen Buch Gedanken. Darin stellt er zwar einem gescheiterten Kapitalismus immer noch einen hoffnungsvollen Sozialismus entgegen, setzt sich aber gleichzeitig für den Individualismus ein, damit jeder das Recht besitzt, sein Leben selbst zu gestalten, ohne dauernd auf bürokratische Schranken zu stoßen. Er predigt einen Sozialismus der Freiheit, der von einem sozialen Liberalismus nicht allzu weit entfernt sein dürfte.

Der sozialistische Generalsekretär Jospin empfiehlt seiner Partei bis auf weiteres einen pragmatischen Kurs, da es wenig sinnvoll sei, sozialistische Grundsätze zu verteidigen, solange die Wirtschaftskrise nicht überwunden ist. Der den rechten Flügel seiner Partei vertretende Landwirtschaftsminister Rocard will die freie Wirtschaft mit fortschreitender sozialer Gerechtigkeit verbinden.

Man darf sich die Frage stellen, worin sich diese neue Skizzierung des französischen Sozialismus von der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards oder dem vom früheren Präsidenten Giscard d'Estaing verteidigten sozial orientierten Liberalismus unterscheidet.

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