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Der Allgemeinheit keine Last

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Der Weltrekord im Diskuswerfen fiel kürzlich in Wien, gebrochen von einem Österreicher; er erzielte eine Weite von 30 Meter. Der Mann, dem dies gelang, heißt Josef Schooßleit-ner und ist vom 1. Lendenwirbel abwärts gelähmt. Jeder Mensch, der Sport betreibt, jeder, der sich täglich dem Straßenverkehr aussetzt, kann eines Tages in die Lage geraten, Sport nur noch im Rollwagen ausüben zu können.

Noch vor ziemlich kurzer Zeit gab es wenig Chancen, eine Querschnitt-lähmung längere Zeit zu überleben, und wenn es gelang, das Spital zu verlassen und im Rollwagen ein weitgehend selbständiges Leben zu führen. Heute erleiden nicht nur mehr Menschen denn je Querschnittlähmungen — vor allem im Straßenverkehr. Auch die Rehabilitation erzielt mehr als je zuvor. Dauerte es noch vor wenigen Jahren ein bis eineinhalb Jahre, einen Querschnittgelähmten so zu rehabilitieren, daß er, mit einem schweren Handikap, aber auch mit den notwendigen — nicht zuletzt auch psychologischen — Voraussetzungen, dieses Handikap zu tragen, ins Leben zurückkehren konnte, so sind dazu heute nur noch vier bis sechs Monate notwendig. Dies bedeutet, abgesehen davon, was es dem einzelnen erspart, nicht zuletzt auch eine bedeutende Kapazitätserweiterung der Rehabilitationsanstalten bei gleichem personellem, räumlichem und apparativem Aufwand.

Die Rehabilitationsanstalten der österreichischen Unfallversicherung in Tobelbad (Steiermark) und Häring (Tirol) rechnen jährlich mit rund 60 neuen Fällen — es gibt noch immer Wartelisten, aber sie sind so kurz wie sie kaum je waren. Die Anstalt in Häring ist neu — Tobelbad hat Pionierarbeit geleistet, war aber stets zu klein. In absehbarer Zeit sollen in diesen widmungsgemäß Unfallopfern vorbehaltenen Anstalten — voraussichtlich in Häring — in einem kleinen Ausmaß auch Menschen aufgenommen werden, deren Lähmung auf Krankheit zurückzuführen ist. Für sie kann, in der Landesheilanstalt Murau (Stolzalpe), und, für Kinder, in Hermagor sowie in den Rehabilitationsabteilungen der Spitäler noch lange nicht genug getan werden.

Sport ist außerordentlich wichtig, um das bei der Rehabilitation Erreichte erhalten zu können. Nicht nur aus psychischen, sondern auch aus physiologischen Gründen, denn Gelähmte sind besonders anfällig für Kreislauferkrankungen, und Sport ist das weitaus wichtigste Kreislauf-Vorbeugungsmittel.

Die meisten Menschen haben keine Ahnung, daß Querschnittgelähmte überhaupt Sport ausüben können und in eigenen Olympiaden und anderen internationalen und nationalen Meisterschaften ihr Können messen, wobei ein harter, aber besonders fairer Kampfgeist herrscht, denn der Gegner ist in keinem Fall der andere Behinderte, sondern der ausschlaggebende, gemeinsame Gegner ist die eigene Behinderung.

Dabei spielt die tatsächlich erzielte Leistung wenig Rolle, obwohl gelähmte Spitzensportler oft auch absolut erstaunliche Leistungen vollbringen. Ein gesunder Tischtennisspieler muß zum Beispiel schon sehr gut spielen, um die im Rollstuhl agierende vielfache Olympiameisterin Dr. Rosa Schweizer, die seit 1964 nicht mehr verloren hat, zu besiegen. Jeder Rekord, den diese Sportler erzielen, jeder Sieg, den sie erringen, hat nicht nur für sie selbst hohe Bedeutung, sondern vor allem auch eine therapeutische Funktion als Beispiel und Ermutigung für alle, die zwar keinen Leistungssport betreiben, aber ebenfalls auf den Rollwagen angewiesen sind — vor allem für jene, die erst seit kurzem gelähmt sind und für die zunächst das Leben zu Ende zu sein scheint. Daß man im Rollwagen nicht nur leben kann, sondern auch seinen Ehrgeiz und sein Leistungsstreben nicht aufzugeben braucht, zeigen ihnen nicht zuletzt die gelähmten Sportler.

Viele von ihnen steuern ihre Autos selbst quer durch Europa zu Meisterschaften und Sportwochen. Sie erringen Medaillen, sie stellen Weltrekorde auf, aber nur ein kleiner Kreis von Freunden und Eingeweihten kennt ihre Namen, feiert ihre Siege. Ihre wichtigste regelmäßige Veranstaltung in Österreich ist die alljährlich in der Bundessportschule Obertraun stattfindende Sportwoche der Querschnittgelähmten — Edmund Dworak, der Verwalter der Bundessportschule, ist einer jener Förderer, die die Wichtigkeit des Sports für die körperlich Gehandikapten früh erkannten und ihn mit allen Kräften fördern.

Die Querschnittgelähmten treten in mehreren Klassen an, ausschlaggebend ist der Wirbel, von dem abwärts der Sportler gelähmt ist. In der Klasse I, wo die Hände in Mitleidenschaft gezogen sind und mancher den Speer kaum halten kann, werden Wurfweiten von 7 bis 8 Meter erzielt — die Anstrengung, die dahintersteht, ist gewaltig, und in jeder der Disziplinen und Klassen, in denen sie antreten, steigen die Leistungsnormen unablässig — so wie im Sport der Gesunden.

Sportstätten für Querschnittgelähmte müssen besondere Anforderungen erfüllen — Obertraun etwa bietet genügend ebenerdige Wohnräume, die wenigen Stufen, die trotzdem zu überwinden sind, werden mit Bretterrampen entschärft. Im normalen Leben stellen sich dem Rollwagenfahrer, das heißt vor allem seinem Rollwagen, zahllose Hindernisse entgegen. Seit kurzem werden in Wien, vorerst noch in geringer Anzahl, erstmals versehrtengerechte Wohnungen gebaut, derartige Wohnungen müssen immer schon bei Planungsbeginn berücksichtigt werden, es muß möglich sein, zu ebener Erde in die Aufzüge einzufahren (und von den Aufzügen in die Wohnungen zu gelangen, Aufzüge, die zwischen den Geschossen halten, sind für Gelähmte unbenutzbar). Die Aufzugskabinen selbst müssen bestimmte Mindestgrößen haben, und die Wohnungstüren sowie alle Türen innerhalb der Wohnungen mindestens 75 Zentimeter brejt sein. In solchen Wohnungen können die meisten Querschnittgelähmten völlig auf sich allein gestellt leben — was für sie auch dann von größter Bedeutung ist, wenn sie Eltern haben oder verheiratet sind, weil es einen gewaltigen seelischen Druck bedeutet, wegen jeder Kleinigkeit auf seine Umgebung angewiesen zu sein.

Analoges gilt im Beruf — auch hier wollen sie weniger direkte Unterstützung als Hilfe bei der Herstellung von Bedingungen, die es ihnen ersparen, der Allgemeinheit zur Last zu fallen. Während des kürzlich in Wien abgehaltenen Kongresses für Sozialarbeit traten erstmals die Betroffenen selbst als Veranstalter auf — nicht mehr als Objekt der Fürsorge, sondern als

Gruppe, die ihre Probleme selbst in die Hand nimmt.

Dabei wurde etwa die Forderung, Arbeitsverhältnisse von Körperbehinderten sollten keinesfalls unkündbar und auch mit keinerlei zusätzlichen Belastungen für den Unternehmer verbunden sein, von den Behinderten selbst erhoben — weil sie aus Erfahrung wissen, daß jeder Sonderstatus ihre Chancen bei der Stellungssuche schmälert. Auch alles, was sie vom Staat verlangen, ist darauf ausgerichtet, ihre Unabhängigkeit zu fördern, beginnend bei der Forderung nach einem Steuerfreibetrag in Abhängigkeit von der Behinderung.

An dieser Stelle seien nur zwei Schwerpunkte ihres Vorschlagskata-loges mit besonderem Nachdruck erwähnt. Erstens die Forderung nach besseren Ausbildungsmöglichkeiten, denn „zur Zeit ist es auch hochintelligenten Gelähmten in vielen Fällen nicht einmal durch außergewöhnlichen Einsatz der persönlichen Umwelt möglich, eine seinen Fähigkeiten entsprechende, zu seiner Selbstverwirklichung nötige Ausbildung zu bekommen“, so die Veranstalter des Kongresses für Sozialarbeit. Zweitens die Forderung, die Straßenverkehrsordnung in einigen Punkten an die Bedürfnisse der Gelähmten anzupassen — reservierte Parkplätze in der Nähe ihrer Wohnung, aber auch ihrer Arbeitsstelle, können die Voraussetzung dafür bilden, ob ein Mensch sich selbst erhalten kann oder nicht. Da niemand so abhängig vom Kraftfahrzeug ist wie sie, sollte ihnen auch die Autoanschaffung — und zwar die Anschaffung größerer Fahrzeuge, wie sie sie brauchen — nebst Zusatzeinrichtungen wie Dachkränen, steuerlich erleichtert werden. Eine Wagentype, die für einen Gesunden ein Luxus ist, kann für einen Gelähmten unentbehrlich sein — hat er sich mit Hilfe einer ausfahrbaren Konstruktion auf dem Wagendach vom Rollwagen auf den Fahrersitz geschwungen und den Rollwagen zusammengeklappt und selbst auf dem Hintersitz seines Spezialfahrzeuges verstaut, ist er ein genauso sicherer Verkehrsteilnehmer wie jeder andere — eher sicherer, weil er seine Grenzen besser kennt.

Hundert kleine Dinge könnten ihm sein Leben erleichtern. Beginnend beim Vermerk in Hotelverzeichnissen, welche Hotels ebenerdig erreichbare Zimmer haben, über Sonderplätze für Rollwagen im Theater (einige herausnehmbare Ecksitze würden genügen) bis zur Befreiung von Zoll und Mehrwertsteuer für Rollstühle und dergleichen. Die Sonderwohnungen für sechs Querschnittgelähmte in Wien sind ein erfreulicher Anfang. Aber nicht mehr.

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