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Der anatolische Lostag

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In der Türkei stehen Parlamentswahlen bevor — und fast gleichzeitig gewaltige Feiern anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Türkei als laizistisch regierte Republik. Der Wahlgang vom 14. Oktober ist von großer Bedeutung für die Zukunft der Türkei — so etwas wie ein Lostag, obwohl eine einschneidende Veränderung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse von dieser Wahl noch kaum erwartet werden darf.

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In der Türkei stehen Parlamentswahlen bevor — und fast gleichzeitig gewaltige Feiern anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Türkei als laizistisch regierte Republik. Der Wahlgang vom 14. Oktober ist von großer Bedeutung für die Zukunft der Türkei — so etwas wie ein Lostag, obwohl eine einschneidende Veränderung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse von dieser Wahl noch kaum erwartet werden darf.

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Die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen liegt anderswo. Einmal wird es nachher hoffentlich kaum noch möglich sein, den nun zwei Jahre andauernden Ausnahmezustand in neun Provinzen mit allen einschneidenden Beschränkungen von Meinungs- und politischer Betätigungsfreiheit weiter aufrechtzuerhalten. Zum anderen aber, und dies vor allem, wird sich zeigen, ob es der Demokratischen Volkspartei nach ihrer Emanzipation von Ismet Inönü unter Bülent Ecevit gelingt, ihren Abstand zur regierenden konservativen Gerechtigkeitspartei so zu verringern, daß der Alpdruck auf unabsehbare Zeit eingefrorener, auf demokratischem Weg nicht mehr änderbarer Mehrheitsverhältnisse von den progressiven, zu einem demokratischen Sozialismus tendierenden Kräften genommen wird.

Ein die Gesetzgebung lähmender Gleichstand der Mandate, wie er in Österreich drohte und in Schweden Realität wurde, ist heute für den Parlamentarismus eine geringere Gefahr als eingefrorene Mehrheiten, wie sie, aus sehr verschiedenen Gründen, in Nordirland und in der Türkei vorliegen. In Ulster hatte die Verquickung politischer, nationaler und religiöser Bekenntnisse zur Folge, daß fünfzig Jahre lang das katholische Drittel der Bevölkerung keine Hoffnung haben konnte, durch Wahlen auch nur zur bescheidensten Teilhabe an der Macht zu gelangen. Dies bildete den Nährboden für IRA-Fanatismus und Gewalt. In der Türkei wurde die Fanatisierbarkeit breiter studentischer Schichten durch linksextreme Führer dadurch gefördert, daß kaum noch Hoffnung zu bestehen schien, auf demokratischem Weg progressive Ideen ins politische Spiel zu bringen. Der Islam-Konservativismus der anatolischen Landbevölkerung sicherte der Gerechtigkeitspartei unter Parteichef Demirel, die diesem Islam-Konservativismus in jeder Weise entgegenkommt, eine breite, tragfähige Mehrheit.

Seit 1923 Einparteienstaat und Diktatur, fand die Türkei zwischen 1945 und 1950, ein praktisch allein dastehendes Beispiel, ohne Blutvergießen, ohne Revolution, ja ohne Androhung von Gewalt, den Weg zum demokratisch regierten Mehrparteienstaat. Ismet Inönü, Gefährte und Nachfolger des „Türkenvaters“ Kemal Atatürk, läßt 1945 oppositionelle Parteien zu und wechselt 1950, nach einer ebenso unerwarteten wie vernichtenden Wahlniederlage, „mit peinlicher Korrektheit und ruhiger Würde“, so damals die „New York Times“, vom Stuhl des Diktators auf die Oppositionsbank über.

Der Übergang von der Diktatur zum Mehrparteiensystem vollzog sich deshalb so reibungslos, weil Atatürks Diktatur von Anfang an auf dieses Ziel hin angelegt war. Modernität, Sekularität, Demokratie wurden den Türken von Atatürk diktatorisch von oben verordnet — das Unglück der Türkei als lebendige Demokratie, die mit festgefahrenen Dauermehrheiten schwer möglieh ist, war der frühe Tod des „Ga-zi“. In der Türkei beruft sich heute jeder, außer der kleinen, radikalen Islam-Partei, auf Kemal Atatürk, und mit den Lippen ist, wie uns Professor Günes, Historiker, neben Ecevit führender Mann der demokratischen Volkspartei, gesprächsweise bestätigte, „heute sogar der Muezzin ein Kemalist“. Kemal Atatürk hat die Türkei in das zwanzigste Jahrhundert geführt — wo sie ihm nicht folgen wollte, stieß er sie brüsk und diktatorisch in die neue Zeit. Atatürk kannte keine Rücksicht gegenüber dem Islam, in dem er den Hauptfeind aller Reformen sah, und brüskierte so die gläubige Landbevölkerung und damit die überwiegende Mehrheit der Türken. Heute ist der Islam in der Türkei wieder allgegenwärtig, auf dem Weg von Istanbul nach Ankara sieht man überall, selbst in den armseligsten Dörfern, brandneue Minarette — offenbar vorgefertigt aus Aluminium — und in Ankara nähert sich Büyük Dersane, die Große Moschee, eine der größten überhaupt, ihrer Fertigstellung — gefördert durch zahllose kleine und große Spenden kleiner und großer Leute. Die von Atatürk zurückgedrängte Religion hat heute wieder enormen politischen Einfluß auf dem Umweg über die Stimmen der Landbevölkerung, auf die die Gerechtigkeitspartei hören muß, wenn sie ihre Mehrheit nicht verlieren will, und der unter Atatürk ausschließlich in türkischer Sprache gestattete Ruf des Muezzins — eine Provokation für jeden Rechtgläubigen — schallt längst wieder in arabischer Sprache über die Dächer, wie es sich gehört.

Aber auch Atatürk ist allgegenwärtig, und die Verehrung, die ihm entgegengebracht wird, hat keinen Beigeschmack von befohlener Devotion, sondern ist echt und spontan.

Nur ist es halt, gar nicht im Sinne des großen Neuerers, eine quasi religiöse Verehrung, sein Bild hat allenthalben einen Ehrenplatz — sehr oft in unmittelbarer Nachbarschaft der Koransure. Das streng islamische Begräbnis, das dem großen türkischen Aufklärer über Betreiben der Familie zuteil wurde, ist ein Symbol des türkischen Widerspruchs.

Zweifellos hat Atatürk tiefgreifende Veränderungen der türkischen Mentalität bewirkt — es gibt in der jüngeren Geschichte kein Beispiel für so einschneidende, nachhaltige Änderungen im Verhalten einer Nation durch den Einfluß eines einzigen Mannes. Seinem Nachfolger Ismet Inönü wurde oft der Vorwurf gemacht, die Macht zu früh aus den Händen gegeben und die Entwicklung der Demokratie durch zu frühe volle Einführung der Demokratie gehemmt zu haben.

Zweifellos hat Inönü den Konservativismus der Landbevölkerung unterschätzt — und er hat mit der Verstaatlichung zahlreicher Bauernwälder, nicht allzulange vor der entscheidenden Wahl von 1950, ihre Loyalität wohl auch einer allzu schweren Belastungsprobe unterworfen. Er ist seither mehr eine verehrte Symbolfigur als eine echte Führergestalt, und seine Partei wurde nie zur Massenpartei, blieb stetg kemalistische Honoratiorenpartei. Bülent Ecevit, ein Mann mit Intelligenz und Charisma, sucht ihr nun ein neues Profil und vor allem, als Partei der noch zahlenmäßig schwachen, aber wachsenden Industriearbeiterschaft, eine echte, ausbaufähige Massenbasis zu geben.

Allerdings: Noch immer leben fast 70 Prozent aller Türken in Dörfern — und von der Landwirtschaft. Und die Bevölkerung der Türkei wächst noch immer viel zu schnell —, die Türkei zählt zu den Nationen ^mit den höchsten Bevölkerungs-Zuwachsraten. Die Bevölkerungsvermehrung frißt die Hälfte der wirtschaftlichen Zuwachsraten von immerhin 7 Prozent auf. Die Gerechtigkeitspartei aber hat wenig Interesse, ernsthafte Schritte zur Eindämmung dieser Bevölkerungsexplosion zu unternehmen, da sie dadurch auf Kollisionskurs mit den traddtions-verhafteten Islamkreisen und mit dem Denken und Fühlen der Landbevölkerung geriete. Wächst die türkische Bevölkerung aber so wie bisher, wird sie vor dem Jahr 2000 die 50-Millionen-Grenze überschritten haben, und schon heute durchkreuzt der Wildwuchs der türkischen Großstädte, allen voran Istanbul, Ankara und Izmir, jedes Planungskonzept. Ankara, einst für 400.000 Menschen geplant, hat heute bereits fast die Einwohnerzahl Wiens und wird durch Wassermangel und Luftverpestung zur Horrorstadt für Ausländer.

Die Probleme, die im Gefolge dieser Bevölkerungslawine auf die Türkei zukommen, werden den demokratischen Konsensus noch auf manche harte Probe stellen. Die große Unbekannte ist dabei die Armee. Wie wird sie sich künftig verhalten?

Zweimal in der fünfzigjährigen Geschichte der Republik hat sie in die Politik eingegriffen, 1960 und 1971. Der Putsch von 1960 stand uneingeschränkt im Zeichen des Kemalismus — eine zur bedingungslosen Unterordnung unter die gewählten Mandatare einer demokratischen Republik erzogene Armee entsagte ihrer politischen Enthaltsamkeit und riß die Macht an sich, als die Staatsführung den demokratischen Weg zu verlassen drohte. Es war einer der unblutigsten Staatsstreiche in der neueren Geschichte und die Offiziersherrschaft endete, nach einigen bitteren politischen Lehren für die Offiziere und harten Auseinandersetzungen in ihren Reihen, so, wie es kein Beobachter für möglich gehalten hatte: Die Junta-Mitglieder kehrten freiwillig in ihre Kasernen zurück und überließen die Politik wieder den gewählten Politikern, sobald die Voraussetzungen für die Wiedereinführung republikanischer Zustände gegeben schienen.

Offizielle türkische Lesart für das Memorandum der Armeeführer von 1971, das der Ausrufung des Ausnahmezustandes voranging: Eine streng demokratische, den Idealen des Kemalismus dienende Armee wendet sich zum zweitenmal gegen eine Bedrohung der Republik — einmal, 1960, gegen eine Bedrohung von rechts, beim zweitenmal, 1971, gegen eine solche von links. Aber ist die Armee von 1971 noch die von 1960? Der Kemalismus hat seine Tragfähigkeit als politische Ideologie längst eingebüßt, denn er wollte nie mehr sein als der große, mit demokratischem Leben zu füllende Rahmen, in dem sich das politische Leben der neuen Türkei nach dem Willen Kemal Atatürks abspielen sollte. Der türkische Offizier von heute ist selbstverständlich Kemalist, aber selten nur Kemalist, es gibt konservative Kemalisten, es gibt sozialistische Kemalisten, es gibt revolutionär gesinnte Kemalisten.

Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß mit dem Memorandum von 1971, mit dem die Armee sich wieder ins politische Spiel brachte, indem sie zu erkennen gab, daß sie sich soweit wie möglich, aber nicht um jeden Preis aus dem politischen Spiel herauszuhalten gedachte, eine im klassischen Kemalismus erzogene, den klassischen Idealen des Kemalismus verpflichtete Generalität eventuellen Aktionen linksgerichteter Offiziere zuvorkommen beziehungsweise deren Druck, in das politische Geschehen einzugreifen, abbauen wollte. Professor Turhan Günes etwa meint, daß es 1971 in der Armee Kräfte gab, die zur Abschaffung der Wahlen tendierten, daß sie aber unterlagen, nicht zuletzt deshalb, weil die Demokratie im türkischen Bewußtsein, durchaus auch der Landbevölkerung, heute sehr stark verwurzelt ist.

Auch in der türkischen Armee, und zwar in allen Rängen. Wenn sich in irgendeinem der Länder, in denen die Armee überhaupt eine politische Rolle spielt, das Militär als Diener einer demokratischen Verfassung versteht, dann in der Türkei, deren Armee nicht zuletzt Schule und Ernährer für 450.000 Türken ist.

Auf der anderen Seite aber zeigt die politisch theoretisch der Abstinenz zugetane Armee wenig Scheu vor dem Richteramt. In den elf, später neun Provinzen unter Kriegsrecht wurden innerhalb eines Jahres 1584 Personen verurteilt, aber nur 143 freigesprochen. Türkische Journalisten schätzen, daß sich 2000 bis 2500 Linke und solche, die für Linke gehalten werden, noch in Haft befinden.

Aufsehen erregten die Prozesse gegen Universitätsprofessoren — einer wurde verurteilt, weil er in einem Werk über Staatsrecht auch marxistische Quellen zitierte, ein anderer, weil er am Begräbnis eines erschossenen Studenten teilgenommen hatte.

Bezeichnend war der Prozeß gegen Cemal Madanoglu, einen der Armee-Revolutionäre von 1960, der sich später dafür eingesetzt hatte, die Armee aus der Politik herauszuhalten. Neben ihm saßen Offiziere, aber auch führende Journalisten und Schriftsteller der Türkei auf der Anklagebank. Die Frage, was mit den Verhafteten, aber noch nicht Verurteilten geschehen soll, liegt in der Luft — und auch die Frage, wie sich die weitere Inhafthaltung von Menschen, die von Militärgerichten verurteilt wurden, nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes und der Militärjustiz mit der kurzen, aber intensiven rechtsstaatlichen und demokratischen Tradition der Türkei verträgt. Noch wagt sie kaum jemand laut zu stellen, aber nach den Wahlen wird sie aktuell. Von der Antwort derer, die dann wieder ohne uniformierte Aufpasser herrschen, hängt einiges für die Zukunft des Landes ab.

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