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Der armenische Professor

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Die Szene werde ich nie vergessen. Da stand er, der Gelehrte aus Jerewan, auf der Rednertribüne, und sprach im sachlichen Tonfall, ein wenig melancholisch über die Zustände in Armenien. Die Fernsehreportage zeigte mitunter auch das Präsidium des Obersten Sowjets und unter den Zuhörern des Professors ein paar mißmutig, eher geduldig lauschende Männer. Einer von ihnen, Michail Gorbatschow, hielt es für angebracht, den Gelehrten zu unterbrechen. Wozu denn das alles derart ausführlich zu schildern wäre, fragte der Parteisekretär.

Der Professor legte die Brille ab und die Papierbögen seiner Rede zur Seite. Seine Gesichtshaut war selbst für einen Armenier ziemlich dunkel, sodaß das Weiß seiner Augen zu leuchten schien. Er stand sehr aufrecht, hob den Kopf

mit einer Bewegung verletzten Stolzes, die allerdings sogleich in den geduldigen Ausdruck des geübten Hochschullehrers überglitt, und Scfgte, zum Fragenden gewandt, dieser könne die Lage in Armenien nicht kennen, denn er bekäme falsche, jedenfalls beschönigende Berichte, und also wäre es die Pflicht des Debattenredners, ihn, den Parteisekretär, über den tatsächlichen Stand der Dinge aufzuklären.

Damit griff der Professor wieder nach Brille und Manuskript, doch wurde er abermals unterbrochen. Diesmal wirkte das sonst so joviale Gesicht des Parteisekretärs leicht sarkastisch, und im spöttischen Klang der Stimme lag drohende und lauernde Härte. „In wessen Namen sprechen Sie hier eigentlich?“, fragte Michail Gorbatschow.

Der Zwischenruf betraf die Frage der Legitimität. Er besagte nicht mehr und nicht weniger, als daß im Obersten Sowjet offenbar auch Persönlichkeiten sitzen, die niemanden oder höchstens allein sich selbst vertreten. Die Kamera zeigte noch einige Sekunden lang Gorbatschows Gesicht. Man sah den wohlbekannten Ausdruck aller Mächtigen, die so tun, als wollten sie jemandem zuhören, während sie bereits längst alles entschieden haben.

Auch dem armenischen Gelehrten blieb die Lage, in der er sich befand, die Dramaturgie der kleinen Szene, nicht verborgen. Die Kamera versuchte nun, gerecht zu sein und zeigte das Gesicht des Professors in Großaufnahme. Das kurz geschorene weiße Haar leuchtete über das längliche, dunkle Gesicht. Der Professor hob die lange, schmale Hand ein wenig verwundert in die Höhe und erwiderte dann ruhig, er spreche als Rektor der Universität in Jerevan im Namen seiner Professoren, seiner Studenten und zudem seiner Wähler. Er blickte dem Fragenden einige Sekunden ins Gesicht, traurig und zugleich bereit, eine weitere Frage zu beantworten, steckte sich endlich mit einer unruhigen Bewegung die Augengläser in die Zigarrentaschen, griff mit der zitternden Hand nach dem Manuskript und verließ die Rednertribüne.

Danach sah man an der Stelle, an der vorher der Armenier gestanden war, Michail Gorbatschow. Er stellte die Frage, wem denn die Unruhen in Armenien nützen konnten, und meinte folglich, die Urheber seien unter den Gegnern von Perestrojka und Glasnost zu suchen. Damit endete die Reportage.

Nicht die tagespolitischen Bezüge sind es, die die Szene aus dem Bilderstrom des Fernsehens herausheben, obwohl wir auch diese nicht vergessen dürfen. Unter Stalin hatte es weder solche Berichte noch solche Rektoren geben können, und noch zur Zeit Chruschtschows war die Vorliebe der alten bolschewistischen Gar-

de für den Gebrauch von Handfeuerwaffen — die Affäre Berija beweist es — nicht gänzlich in Vergessenheit geraten. Daß der mächtigste Mann der Partei und des Staates heute einen Gelehrten nur anschnauzt, aber nicht mehr gleich liquidieren läßt, sei anerkennend vermerkt. Doch darum geht es nicht; die Aussagekraft der Szene berührt Grundsätzliches.

So, ja, genau so, sind die Vertreter der Minderheiten seit fünftausend und mehr Jahren vor den Machthabern gestanden, die sich freilich auf die Mehrheit wenn nicht der Menschenmassen, so doch der Waffen stützten. So und nicht anders wurden sie mißver-

standen oder gar nicht angehört, durch zur Schau gestellte Langeweile sanft verspottet, denn: Die Machthaber hatten ihre Urteile bereits vorher abgefaßt, hörten nur dem Scheine nach zu, waren an den Sorgen der Minderheit nicht wirklich interessiert. Die Männer an der Spitze hatten ihre eigenen politischen Berechnungen, und diese betrafen nicht die eine oder andere Sache, sondern ein höheres, den einzelnen Angelegenheiten übergeordnetes Kalkül.

Vom Standpunkt der Reichsinteressen gesehen sind die Sorgen der Teile nebensächlich;

wer durch die Einführung von Perestrojka und Glasnost für das Uberleben des kommunistischen Systems kämpft, kann sich von irgendwelchen armenischen Beschwerden — ob sie nun berechtigt oder unbegründet sind — nicht ablenken lassen; im Vergleich zum großen Konzept hat die kleine Einzelheit wenig Bedeutung. Durch solche Überlegungen wurde in Europa Macht seit jeher erhalten — oder verspielt. Jemand müßte Michail Gorbatschow empfehlen, die Lebensgeschichte Josefs II. zu studieren.

Aber die Szene, dieser in zivilisierter Manier ausgetragene Konflikt zwischen dem russischen Funktionär und dem armenischen

Intellektuellen, reicht noch tiefer: in die Sphäre der unaussprechbaren Inhalte und unformulierba-ren Emotionen. Sie führt in die Tiefe der Geschichte und berührt Kräfte, die im menschlichen Unterbewußtsein wachen, durch Klugheit und Gewöhnung verdrängt, aber stets bereit, offen zutage zu treten.

Für das Geschichtsbewußtsein eines durchschnittlichen Russen ist Armenien ein Land, das durch die Waffen der Zaren im Jahr 1828 von den Türken befreit worden ist. Neunzig Jahre später erhielten die Armenier sogar einen eigenen Staat, freilich im Rahmen der Union all der sowjetischen Republiken.

Für die Armenier ist Rußland allerdings nur eine Episode. Ihr Volk erscheint fast zweitausend Jahre vor dem russischen in den Annalen, ist im Jahr 1200 vor Christus bereits auf seinem derzeitigen Siedlungsgebiet anwesend, wird unter Dareios mit seinem heutigen Namen genannt, erschafft zwischen der hellepischen Welt, Indien und den asiatischen Nomaden eine eigene Hochkultur, gehört zu den ersten Trägern der Christianisierung und entwickelt in jenem 6. Jahrhundert eine großartige Baukunst, in dem die Scharen der heute als Russen bekannten Tierzüchter und Ackerbauern historisch erkennbar werden. Erst im Jahr 880 erglänzt in Nowgorod das erste Fürstentum der Rurikiden.

Die Armenier haben seither große Reiche gebildet und noch größere Niederlagen erlitten, sie sind ausgewichen in die Überlegenheit des Intellekts, retteten sich in die unantastbare Geisteswelt von Kunst, Wissenschaft, kaufmännischem Können, lernten auch, sich von Zeit zu Zeit zu verbeugen - nur, um innerlich aufrecht zu bleiben.

Und so sahen wir auf der Mattscheibe eine Szene von shakespearescher Eindringlichkeit und Symbolkraft, sahen - das wievielte Mal in diesen paar hundert Jahren?! — den Vertreter einer alten Hochkultur, der würdig, allerdings ohne viel Hoffnung, wieder einmal den Versuch unternahm, den Menschen einer viel jüngeren, derberen und schwerfälligeren Kultur gewisse, für diesen kaum faßbare Inhalte begreifbar zu machen. Und Gefühle auch.

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